Bei den Unwettern im Tessin vor gut einem Monat sind mindestens sieben Menschen ums Leben gekommen, ganze Täler waren abgeschnitten. Wie sich die Situation heute darstellt, weiss Martina Kobiela. Die Journalistin lebt im oberen Maggiatal.
SRF News: Wie ist die Lage im Tessin einen Monat nach den heftigen Unwettern?
Martina Kobiela: Das Wichtigste für die Leute hier im oberen Maggiatal ist, dass das Tal wieder zugänglich ist – dank der vom Militär in Cevio erstellten Ersatzbrücke über den Fluss. Entlang des Flusses sind durch das Hochwasser teilweise neue Badestellen entstanden. Doch mancherorts sind die Schäden unübersehbar. So etwa in Sornico, wo die Eishalle zerstört wurde. Oder im Bavonatal, das nach wie vor fürs Publikum nicht zugänglich ist.
Wie gut sind die Aufräumarbeiten seit Ende Juni vorangekommen?
Nach dem Unwetter gab es keinen Strom, kein Trinkwasser, das Handynetz funktionierte nicht mehr. Doch schon wenige Tage später war alles wieder da. Auch die meisten Strassen wurden innert Tagen vom Geröll befreit.
Gleich hinter der Schule von Sornico ist eine ganze Wiese weggeschwemmt worden.
Wichtig zu wissen: Nicht das ganze obere Maggiatal ist von den Schäden betroffen. Doch dort, wo die schlimmsten Verheerungen stattfanden, ist die Verwüstung immer noch gross. So etwa in Sornico, wo die Schule überschwemmt wurde, dem ganzen Geröll aber standgehalten hat – und gleich dahinter eine ganze Wiese weggeschwemmt wurde.
Welche Herausforderungen stehen noch bevor?
Alles zu reparieren ist das eine – aber eine grosse Herausforderung ist es auch, das Ganze emotional zu ertragen. Der Schock sitzt tief. Am schlimmsten ist es für jene, die in der Nacht des Unwetters am 29. Juni im Tal waren. Ich selber hatte das Glück, dass ich mit der Familie wenige Stunden vorher weggefahren bin. Die Betroffenen erzählen von starkem Regen und extrem vielen Blitzen – und davon, dass mitten in der Nacht die Hochwassersirenen losgingen.
Die Strasse in Sornico verwandelte sich in einen reissenden Fluss, der alle Autos mitriss.
Familien sind dann bei sintflutartigem Regen aus ihren Häusern geflohen, um in höhere, sicherere Gebiete zu gehen. Strom oder Handynetz gab es zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr. Die Strasse in Sornico verwandelte sich in einen reissenden Fluss, der alle Autos mitriss.
Um diese schockartigen Momente aufzuarbeiten, steht den Betroffenen jetzt ein psychologischer Notfalldienst des Kantons zur Verfügung. Andererseits spürt man hier auch eine grosse Energie bei den Menschen und den Willen, alles wieder aufzubauen.
Kann man Lehren aus dem Unwetter ziehen?
Sicher müssen die Gefahrenkarten des Kantons überarbeitet werden – und in Risikozonen darf nicht mehr gebaut werden. Auffällig ist, dass die Dorfkerne auch in jenen Gemeinden, die am stärksten getroffen wurden, intakt geblieben sind. Die ältesten Häuser stehen noch – mit Ausnahme der alten Rustici im Val Bavona, die von einem Erdrutsch mitgerissen wurden.
Das Val Bavona galt schon immer als gefährliches Tal.
Allerdings gilt gerade das Val Bavona seit Jahren als gefährliches Tal, darum lebt auch niemand ganzjährig dort. Schon vor hunderten Jahren verliessen die Menschen das Tal bei schlechtem Wetter. Und so befindet sich Hauptort des Tales, Cavernio, denn auch am Anfang des Tals – und dorthin – ins «Casa in Inverno» – zogen sich die Menschen früher im Winter zurück.
Das Gespräch führte Tim Eggimann.