Kurz vor Weihnachten haben Bundesrat und EU-Kommission die Einigung auf neue Verträge verkündet. Teil dieser Einigung ist ein neues Streitbeilegungsverfahren zwischen der Schweiz und der EU. Weil darin auch der Europäische Gerichtshof (EuGH) eine Rolle spielt, sprechen Kritikerinnen und Kritiker von «Fremden Richtern» – und lehnen das Abkommen ab. Inlandredaktor Matthias Strasser erklärt, wie das neue Verfahren funktioniert.
Wann kommt das Streitbeilegungsverfahren zur Anwendung?
Sobald sich die Schweiz und die EU uneinig sind bei der Anwendung der bilateralen Verträge. Sieht eine Seite die Verträge nicht eingehalten, diskutieren beide Seiten zuerst in einem politischen Gremium, dem Gemischten Ausschuss. Bisher war er das einzige Forum zur Lösung von Streitfragen. Wurde man sich nicht einig, kam man gemeinsam zum Schluss, dass Streit besteht – beigelegt wurde dieser aber nicht. Neu können beide Seiten ein Schiedsgericht anrufen, wenn ein Streit im Gemischten Ausschuss nicht beigelegt werden kann.
Wie setzt sich das Schiedsgericht zusammen?
Im Schiedsgericht sind die Schweiz und die EU mit gleich vielen Juristinnen und Juristen vertreten. Gemeinsam wählen die beiden Seiten eine weitere unabhängige Person, die das Gericht präsidiert. So ist gleichzeitig sichergestellt, dass es im Schiedsgericht nicht zu einem Patt kommt und dass keine Seite die andere dominieren kann.
Welche Rolle spielen die Richter des Europäischen Gerichtshofs (EuGH)?
Für das Schiedsgericht gibt es zwei Kategorien von Fällen:
- Regeln aus dem gemeinsamen Vertrag sind strittig: Hier entscheidet das Schiedsgericht, wer Recht kriegt. Der EuGH spielt keine Rolle.
- Fälle, in denen auch EU-Binnenmarktrecht strittig ist: In Bereichen, wo die Schweiz dank der EU-Verträge am EU-Binnenmarkt teilnimmt, verlangt die EU, dass sich diese an die Regeln des Binnenmarktes hält. Betrifft eine Streitfrage zum Beispiel einen Begriff aus dem EU-Binnenmarktrecht, legt das Schiedsgericht diesen Teil-Aspekt dem EuGH zur Auslegung vor. Der EuGH-Entscheid ist für das Schiedsgericht anschliessend verbindlich. Das Schiedsgericht muss den EuGH-Entscheid für das eigene Urteil berücksichtigen.
Was passiert nach einem Entscheid des Schiedsgerichts?
Wenn die unterlegene Seite den Entscheid nicht akzeptiert, hat die andere Seite ein Recht auf Ausgleichsmassnahmen. Die Idee: Niemand soll aus dem Vertragsbruch einen Vorteil ziehen. Diese Ausgleichsmassnahmen wären neu beschränkt auf die Binnenmarktabkommen, wobei jenes zu den Landwirtschaftsprodukten nur Ziel sein darf, wenn auch die Streitfrage dieses Abkommen betrifft. Gegenmassnahmen im Bereich der Forschung, beim Studierenden-Austausch oder bei der Börse, wie in der Vergangenheit, wären nicht mehr erlaubt.
Was, wenn eine Seite die Ausgleichsmassnahmen unfair findet?
Die von den Ausgleichsmassnahmen betroffene Seite kann erneut vor das Schiedsgericht ziehen. Hier spielt der EuGH keine Rolle. Kommt das Schiedsgericht zum Schluss, die Ausgleichsmassnahmen seien fair (juristisch: verhältnismässig), ist der Fall erledigt. Wenn auch das Gericht eine Unverhältnismässigkeit feststellt, können Ausgleichsmassnahmen gegen die unfairen Ausgleichsmassnahmen ergriffen werden – und der Prozess beginnt von vorne.