Nachmittags vor dem Kirchgemeindehaus Saint-Pie in Meyrin, im Norden von Genf, in der Nähe des Flughafens. Vor dem Gebäude hat sich bereits eine lange Warteschlange gebildet. Helfer schauen, dass die Mindestabstände eingehalten werden. Unter den Menschen, die hier gratis Lebensmittel und Hygiene-Artikel beziehen, befinden sich auch viele Familien.
Beim Zugang zur Halle stehen auch Beratungstische der Genfer Sozialdienste. Heute sucht Agnieska hier Rat. Die Frau mit Wollmütze und einer roten Daunenjacke arbeitet am Flughafen. Seit März ist sie nicht mehr am Arbeitsplatz, sie befindet sich in Kurzarbeit und verfügt noch über 80 Prozent ihres Gehaltes.
Beratung im Zentrum
Bis jetzt sei sie auch dank erspartem Geld über die Runden gekommen, sagt Agnieska. Das Ersparte sei schnell aufgebraucht, darum lasse sie sich hier beraten. Agnieska hatte bislang nie Geld vom Staat gebraucht. Sie holt hier keine Lebensmittel, sondern nur Beratung. Das macht ein Drittel der Personen so, die sich hier an diese mobilen Sozialdienste wenden.
Weitere Kreise betroffen
Agnieska wurde von Vincent Mayer, Abteilungsleiter der Genfer Sozialdienste, beraten. Der Inhalt des Gesprächs ist vertraulich. Vincent Mayer beobachtet aber generell, dass nun viele Leute in Schwierigkeiten seien, die bislang nie Hilfe vom Staat brauchten: «In der zweiten Welle sehen wir, dass Leute hierherkommen, die nie Sozialhilfe gebraucht haben, vielleicht auch wegen Ersparnissen. Aber jetzt haben sie diese Ersparnisse aufgebraucht und haben plötzlich nichts mehr.»
In der zweiten Welle kommen Leute, die nie Sozialhilfe gebraucht haben.
Diese Beratungen sind ein Pilotprojekt. Und vor Ort wird nicht sofort Sozialhilfe erteilt. Vielmehr werden verschiedene Probleme angeschaut: Die Genfer Sozialdienste schauen das Einkommen an, wenn die Leute dies wünschen. Und sie geben Tipps und Formulare, wo Hilfe zu beantragen ist. Manche Menschen wollen aber auch anonym bleiben, etwa wenn sie Sans-Papiers sind.
Erste Lagebesprechung und Tipps
Auch der Mieterverband ist präsent und hilft Menschen, denen der Verlust der Wohnung droht. Es sei ein Anfang, sagt Mayer: «Es ist vor allem eine erste Einschätzung und wir orientieren, wo die Menschen Anträge stellen können. Wir haben aber auch den Vorteil, dass wir auf Daten wie die Steuererklärung zurückgreifen und Ansprüche abklären können. Wir wollen hier die Leute ermutigen, ihr Recht auf Sozialleistungen auch geltend zu machen.»
Wir wollen hier die Leute ermutigen, ihr Recht auf Sozialleistungen auch geltend zu machen.
Dabei begegnen die Sozialdienste auch Menschen in dramatischen Situationen. Für sie ist eine Psychologin anwesend. Weil es um heikle Themen geht, wollen viele der Anwesenden dem Radio nicht Auskunft geben.
Angebot bleibt bis zum Ende der Krise
Auch für Agnieska, die am Flughafen arbeitet, ist es nicht einfach. Obwohl sie von sich sagt, dass sie noch Glück habe, da sie fest angestellt sei. Manchmal spüre sie aber schon Trauer und Wut. Immerhin: Sie schätzt das Beratungsangebot und empfindet es als hilfreich. Und es gebe eine kleine Chance, dass sie Hilfe erhalten werde.
Kurz nach dem Eindunkeln hat sich die Halle geleert. Nächste Woche werden die Hilfesuchenden wiederkommen. Genf hält das Angebot der Sozialdienste vorerst aufrecht, solange die Krise andauert.