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Ohnmächtig und ausgeliefert Wie sich ein Stalker in Susanas Leben schlich

Der Nationalrat will Täter konsequenter bestrafen. Susana Canonica hat über sieben Jahre einen Stalker ertragen müssen. Wie der Mann gegen ihren Willen Teil ihres Lebens geworden ist.

Susana Canonica öffnet die Tür ihrer Praxis für Physiotherapie in der Berner Altstadt. Die 45-Jährige mit dem kurzen Haar wirkt voller Tatendrang. Sie steht mit beiden Beinen im Leben, ist nicht nur Therapeutin, sondern auch Miteigentümerin der Tapas-Bar Volver.

Doch Susana Canonica trägt auch einen belastenden Rucksack mit sich herum. Sie wurde ab 2016 von einem Stalker nicht in Ruhe gelassen. Was mit Liebesbriefen begann, ging mit elektronischen Postkarten weiter. Diese sind bis heute auf dem Laptop gespeichert, als Beweismittel.

Über 400 Postkarten

Ein besonders böses Beispiel liest sie vor: «Der Frühling macht alles neu: Per sofort ist – mit Namen eine andere Person – in Bern der alleinige Eigentümer vom Bar Volver.» Zudem habe die abgebildete Frau in allen Restaurants und Take-aways der Stadt Bern zehn Jahre Hausverbot.

Das Bild zeigte Susana Canonica. Die Postkarte ging auch an andere Bars in Bern. Und ihr wurde das zu viel. Auch, weil der Mann ihr und dem Geschäftsmitinhaber des Volver unzählige verleumderische SMS geschickt hatte. Da dauerte das Stalking schon eineinhalb Jahre.

Der Mann, den sie hinter den über 400 versandten Postkarten vermutete, war Stammgast im Volver in Bern, wie sich später herausstellte. Er kam oft am Nachmittag vorbei und bestellte Espresso und Schokoladenkuchen.

Das unangenehme Gefühl kommt über die Dauer und ist schleichend.
Autor: Susana Canonica Opfer eines Stalkers

Nach der bösen Postkarte und den SMS stellte sie den Stalker. Und machte klar, dass sie keinen Kontakt will. Dieser stritt ab, dass die digitalen Postkarten von ihm stammten. Einzig die Liebesbriefe ganz am Anfang gab er zu.

Das soll sich mit der neuen Strafnorm ändern

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Die neue Strafnorm wird unter dem Artikel 181b, der den Titel «Nachstellung» trägt, verankert. Der Nationalrat verzichtete in der Debatte darauf, dass das ebenfalls gebräuchliche Wort «Stalking» im Strafgesetzbuch verankert wird. Es wäre der erste Anglizismus im Strafgesetzbuch gewesen. Unter der «Nachstellung» heisst es: «Wer jemanden beharrlich verfolgt, belästigt oder bedroht und ihn dadurch in seiner Lebensgestaltungsfreiheit beschränkt, wird, auf Antrag, mit einer Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft.»

Sie ging zur Polizei, doch ausser Beweismittel sammeln geschah nicht viel. Susana Canonica versuchte, den Mann zu ignorieren, blieb stark, sagte zu sich selbst immer wieder: «Der macht mir schon nichts.» Denn direkt bedroht fühlte sie sich nicht.

Anhand all dieser Karten und Texten, die er geschrieben hatte, wusste sie, dass er ganz viel über ihre Person recherchiert hatte. Und dass er beobachtete, wo sie ein und aus geht. «Das ist das unangenehme Gefühl». Gegen den Willen von Susana Canonica war er Teil ihres Lebens geworden. Fortan schaute sie sich beim Verlassen der Wohnung genau um, ob er da war.

Neuer Straftatbestand als Anerkennung

Im Sommer 2021 trifft sie den Mann auf der Münsterplattform erneut an – und beschliesst, selbst aktiv zu werden, weil die Staatsanwaltschaft den Fall sistiert hatte, obwohl der Mann zur Fahndung ausgeschrieben war.

Sie rief deshalb die Polizei, die aber zuerst weitere Abklärungen machte und sie zurückrief. Deshalb verfolgte sie ihren Stalker durch die Berner Altstadt, bis die Polizei da war. Der Mann wird Minuten später von Polizisten kontrolliert – und darf wieder gehen. Erst in einem zweiten Verfahren über den zivilrechtlichen Weg konnte sie ein fünfjähriges Kontaktverbot erwirken. Das kostet: Über 7000 Franken gibt Canonica für die Gerichtsfälle aus. Aus Ihrer Tasche.

Gemischte Erfahrungen im Ausland

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Stalking wurde Anfang der 1990er-Jahre in den angelsächsischen und anschliessend den nordeuropäischen Ländern eingeführt. In der Hälfte der EU-Staaten gibt es einen entsprechenden Straftatbestand. Die Erfahrungen in den Nachbarländern Deutschland und Österreich sind allerdings gemischt.

In beiden Ländern gab es zwar viele Anzeigen, nur in einem kleinen Teil davon kam es auch zu Verurteilungen. Die Erwartungen daran seien in vielerlei Hinsicht nicht erfüllt worden. Allerdings seien die Erwartungen auch unrealistisch hoch gewesen, wie es im Bericht des Bundesamtes für Justiz zum Stalking heisst.

Dass der Nationalrat nun Stalking im Strafgesetzbuch verankert hat, ist für die 45-Jährige eine Anerkennung. «Einerseits, dass ich das Gefühl habe, dass das, was er gemacht hat, etwas ist, das wirklich falsch ist.» Zudem hofft sie, dass man mit dem neuen Recht nun besser dagegen vorgehen kann.

Echo der Zeit, 18.08.2024, 18 Uhr

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