Nach dem Erdbeben in Marokko vor rund drei Wochen hat die Glückskette rund zweieinhalb Millionen Franken an Spenden gesammelt. Im Vergleich mit anderen Spendenaktionen ist das wenig. Das Erdbeben war das stärkste in der Region seit über 100 Jahren, mehr als 2900 Menschen kamen laut den marokkanischen Behörden ums Leben. Judith Schuler von der Glückskette erläutert, wann Menschen viel spenden und wann nicht.
SRF News: Warum hat die Schweizer Bevölkerung bisher vergleichsweise wenig gespendet, um die Bevölkerung in Marokko nach dem Erdbeben zu unterstützen?
Judith Schuler: Das hat viel mit der medialen Berichterstattung zu tun. Am Anfang war lange unklar, ob Marokko internationale Hilfe ins Land lässt. Auch die Glückskette brauchte diese Zusicherung, bevor sie den Sammelaufruf starten konnte. Es war verwirrend für die Spenderinnen und Spender. Gleichzeitig kamen noch die Überschwemmungen in Libyen hinzu.
Die Leute haben sich 2022 gegenüber der verheerenden Entwicklung in der Ukraine grosszügig gezeigt.
Dieses Jahr dominieren Krisen: Ukraine-Krieg, Erdbeben in der Türkei und Syrien. Doch die Spendenfreudigkeit der Schweizerinnen und Schweizer hat zugenommen. Warum ist das so?
Über die letzten zehn Jahre hat die Spendenfreudigkeit der Schweizer Bevölkerung konstant zugenommen. Es gab einen Höchstwert von 2.4 Milliarden Franken im Jahr 2022. Das ist enorm – ich denke, weil es ein Krisenjahr war. Die Leute haben sich gegenüber der verheerenden Entwicklung in der Ukraine grosszügig gezeigt. Man kann sagen, dass die durchschnittliche Spendensumme aller Schweizer Haushalte im letzten Jahr extrem gross war, so gross wie noch nie. Auch die durchschnittliche Spendensumme hat über die Jahre immer wieder zugenommen.
Welche Faktoren entscheiden darüber, ob und wie viel die Schweizer Bevölkerung spendet?
Es ist die persönliche Betroffenheit. Leute spenden, wenn sie selber von einem Ereignis betroffen sind, oder wenn sie Leute kennen, die davon betroffen sind. Das war vor allem auch bei der Corona-Pandemie 2020 der Fall. Sie war sehr nahe bei uns. Sie hat das Leben von uns allen beeinflusst. Im Jahr 2022 kam der Krieg in der Ukraine. Ein europäisches Land wurde angegriffen, es gab Flüchtlinge, es gab auch eine Flüchtlingswelle in der Schweiz. Die Leute haben Geflüchtete bei sich aufgenommen und gleichzeitig sehr viel gespendet.
In welchen Fällen gestaltet es sich schwieriger, Spenden zu sammeln?
In Kriegssituationen, in denen die Ursachen etwas unklarer sind, ist es oft schwieriger. Die Leute verstehen nicht genau, was da passiert. Dann sind die Spenden eher grundsätzlich niedriger. Bei Naturkatastrophen, die unabhängig von der Bevölkerung sind, von den betroffenen Menschen, sind die Leute grundsätzlich sehr grosszügig.
In Libyen zum Beispiel haben wir aber nicht genügend Partnerorganisationen vor Ort. Aus diesem Grund konnten wir keine Spendensammlung lancieren.
Beeinflussen die Unterschiede bei den Ereignissen die Art und Weise, wie Sie Spenden sammeln?
Wir entscheiden nach gewissen Kriterien, ob wir nach einer Katastrophe eine Sammlung machen. Es braucht erstens auf jeden Fall einen Aufruf zur internationalen Hilfe von einem Land. Dann braucht es zweitens Aufmerksamkeit in den Medien. Drittens brauchen wir mindestens drei bis vier Partnerorganisationen, die schon vor Ort tätig sind und die dann sehr schnell die Hilfe starten können. In Libyen zum Beispiel haben wir aber nicht genügend Partnerorganisationen vor Ort. Aus diesem Grund konnten wir keine Spendensammlung lancieren. Doch wenn eine von unseren Partnerorganisationen in Libyen aktiv ist, werden wir einen Beitrag aus unserem Nothilfefonds sprechen. Das ist ein Fonds, den wir genau für solche Fälle haben.
Das Gespräch führte Amir Ali.