Das Schweizer Parlament will jenen Menschen aus der Ukraine, die aus vermeintlich «sicheren» Gebieten stammen, den Schutzstatus S nicht mehr gewähren . Für den Osteuropa-Experten Andreas Umland – er befindet sich derzeit in Kiew – gibt es allerdings keine wirklich sicheren Gebiete in der Ukraine.
SRF News: Kann man in der Ukraine überhaupt zwischen sicheren Gebieten und nicht sicheren unterscheiden?
Andreas Umland: In der Phase zwischen 2014 und dem 24. Februar 2022 war eine solche Unterscheidung möglich. Die Kämpfe beschränkten sich damals auf das Donezk-Becken in der Ostukraine. Doch seit dem Vollangriff Russlands auf die Ukraine ist eine sinnvolle Unterscheidung nicht mehr möglich.
Die Russen bombardieren in der ganzen Ukraine gezielt zivile Ziele wie Spitäler oder Schulen.
Inzwischen wird die ganze Ukraine bombardiert – bis an die ukrainisch-polnische und die ukrainisch-rumänische Grenze im Westen des Landes. Zudem greifen die Russen mit ihren Marschflugkörpern, Raketen, Drohnen und Bomben überall zivile Ziele an wie Spitäler oder Schulen. Für die Russen ist die gesamte Ukraine Kriegsgebiet.
Es gibt allerdings Gebiete, wie etwa Kiew, die als relativ sicher gelten. Gehen die Ukrainer also eher dorthin, als dass sie ins Ausland fliehen?
Auch Kiew wird häufig angegriffen, verfügt aber über eine bessere Flugabwehr als die meisten anderen Städte und Gebiete in der Ukraine. In der Tat sind viele Flüchtlinge aus dem Osten und Süden der Ukraine nach Kiew gekommen, weil sie sich hier sicherer fühlen.
Die Russen führen ihre Bombardements der Energieinfrastruktur gezielt gegen die Zivilisten und Familien.
Doch es gibt auch Familien, die mit ihren Kindern in immer wieder bombardierten Städten wie Charkiw bleiben. Andere Familien leben im Westen der Ukraine und entscheiden sich, das Land zu verlassen, weil sie die Kinder nicht dem Luftalarm und den Explosionen aussetzen wollen. Hinzu kommen die Probleme mit der Energieversorgung in weiten Teilen der Ukraine, gerade angesichts des Winters. Die Russen führen ihre Bombardements der Energieinfrastruktur gezielt gegen die Zivilisten und Familien.
Wie gefährlich ist es, in diesen nicht direkt umkämpften Gebieten zu leben?
Die unmittelbare Lebensgefahr ist dort sicher kleiner als in den umkämpften Gebieten im Osten der Ukraine. Doch in den ost- und südukrainischen Städten – Cherson, Odessa, Charkiw – ist es wesentlich gefährlicher als in der Zentral- oder Westukraine. Doch auch in Städten wie Lwiw im Westen gibt es dauernd Luftalarm, es gibt auch Explosionen und Einschläge von Bomben.
Das Schweizer Parlament will eine Unterscheidung der hierher geflüchteten Menschen aus der Ukraine in solche aus sicheren und weniger sicheren Gebieten. Können die Schweizer Behörden die Herkunft der Menschen überhaupt feststellen?
Ich frage mich, wie das möglich sein soll. Zudem kann man als Zivilist auch an der ukrainisch-polnischen Grenze durch einen russischen Raketeneinschlag getötet werden. Der Krieg ist in der ganzen Ukraine – auch wenn die unmittelbare Lebensgefahr im Westen des Landes vielleicht etwas kleiner ist. Insofern sind das willkürliche Unterscheidungen.
Dieser Krieg Russlands ist in der ganzen Ukraine Realität.
In allen europäischen Ländern ist die Migration ein grosses und sehr umstrittenes Thema. Können Sie den Entscheid in der Schweiz vor diesem Hintergrund nachvollziehen?
Eigentlich nicht. Russland setzt im Krieg gegen die Ukraine sehr viele Langstreckenwaffen ein, die gezielt zivile Infrastruktur und Gebäude ins Visier nehmen. Dieser Krieg Russlands ist in der ganzen Ukraine Realität – er wird überall geführt, um Energieinfrastrukturen und Menschen zu treffen.
Das Gespräch führte Katrin Hiss.