SRF News: Ist der Grenzzaun an Ungarns Grenze zu Serbien völkerrechtskonform?
Walter Kälin: Die Genfer Flüchtlingskonvention verbietet den Staaten, Flüchtlinge in den Herkunfts-, also den Verfolgerstaat zurückzuschicken. Die Konvention verpflichtet Länder nicht, Flüchtlinge aufzunehmen und ihnen Asyl zu gewähren. Insofern haben die Staaten gewisse Möglichkeiten, zu sagen, das reicht, wir wollen nicht mehr Flüchtlinge aufnehmen. Solange die Konsequenz nicht ist, dass diese Leute in die Verfolgungssituation zurückgeschickt werden.
Ist das im Fall Ungarns gewährleistet?
Direkt werden die Leute nicht nach Syrien zurückgeschickt, sondern sie bleiben in Serbien. Das Problem ist, dass wenn jedes Land sich auf diesen Standpunkt stellt, wir am Schluss schlicht und einfach bei einer so grossen Krise keine Lösung, sondern mehr Probleme haben. Diese Menschen sind verzweifelt, sie werden ihre Wege finden. Und die Probleme lassen sich wirklich nur durch Kooperation zwischen den Staaten lösen und nicht durch solch einseitige Massnahmen.
Das Dublin-Abkommen sagt, Asylsuchende dürfen nur in ein sicheres Land zurückgeschickt werden. Ungarn sagt, Serbien sei sicher. Die UNO bestreitet das.
Serbien ist in erster Linie kein Dublin-Staat. Das heisst diese Regelung, welche sich die EU gegeben hat und wir auch in der Schweiz anwenden, gilt in dem Fall nicht. Die Serben sind in einer schwierigen Situation. Auch sie können nicht alle aufnehmen. Deshalb müsste hier die Zusammenarbeit über die Grenzen der EU hinausgehen.
Ungarn hat neu eine Transitzone und sagt damit faktisch: Wir lassen keine Asylgesuche mehr zu. Stimmt das?
Das ist das Problem. Die ungarische Regierung hat sich auf den Standpunkt gestellt, dass die Menschen aus Syrien die Flüchtlingseigenschaften ganz klar nicht erfüllen. Das stimmt aber so nicht. Es sind nicht alle automatisch Flüchtlinge im rechtlichen Sinn, aber sehr viele von ihnen sind es.
Laut der Genfer Konvention müssen Flüchtlinge in ihrer Heimat individuell verfolgt werden. Kein Flüchtling ist, wer sein Land aus Angst vor Konflikten vorsorglich verlässt. Das heisst, die Syrer haben kein Anrecht auf den Flüchtlingsstatus?
Diese Auffassung teile ich nicht. Und viele europäische Staaten teilen sie nicht. Der Grund: Wir haben hier nicht eine Konfliktsituation, bei der wir zwei Armeen haben, und die Zivilbevölkerung gerät zwischen die Fronten. Für die einen sind jene, die in Rebellengebieten sind, Anhänger des Regimes. Für die anderen sind sie Ungläubige.
Das heisst, die Kriegsführung richtet sich hier gegen Menschengruppen, die mit einer der vielen Kriegsparteien identifiziert werden. Deshalb können wir durchaus davon sprechen, dass hier Menschen wegen ihrer politischen oder religiösen Haltung – notabene einer zugeschriebenen Haltung – zu Zielen werden. So wird die Auseinandersetzung auch ausgetragen. Es werden zivile Gebiete beschossen, Zivilisten verschleppt, massakriert. Mit anderen Worten: Es hat unter den Syrern, die ihr Land verlassen haben, durchaus echte Flüchtlinge im Sinne der Konvention.
Müsste die Genfer Konvention entsprechend präzisiert werden?
Ich denke nicht. Es wird zwar oft gesagt, die Genfer Konvention sei überholt, wenn es um Kriegssituationen geht. Wir müssen zurückdenken. Was war der Zweck der Konvention, als sie 1951 geschaffen wurde? Es ging darum, die Flüchtlingsfrage nach dem Zweiten Weltkrieg zu lösen. Sie fand deshalb nur Anwendung auf europäische Flüchtlinge, die vor dem 1. Januar 1951 geflohen waren. Die Idee, dass es um Menschen geht, die im Kontext von Kriegen Schutz suchen, war von Beginn weg da. Das Problem ist die Auslegung dieser Konvention. Dafür muss sie nicht ergänzt werden. Es braucht weichere Kriterien wie die Schutzgewährung von Kriegsvertriebenen, die in den Rechtsordnungen aber durchaus vorhanden sind.
Wenn Sie die jetzige Situation ansehen, wie ist Ihre Gefühlslage?
Gemischt. Wir hatten auch in früheren Zeiten bei sehr grossen Flüchtlingszahlen Reaktionen wie die heutigen. Damals während den Kriegen in Ex-Jugoslawien gab es sehr schwierige Situationen. Es gab grosszügige und sehr restriktive Länder. Das scheint sich immer wieder zu wiederholen. Ich fühle eine gewisse Frustration dabei, dass man von früheren Situationen nicht lernt. Oder auch, dass man Rezepte, die funktioniert haben, wie zum Beispiel damals mit den Bootsflüchtlingen aus Vietnam, den sogenannten Boat-People, sehr leicht vergisst, und man nicht versucht, dort anzuknüpfen. Das fehlende Vorausdenken für Situationen, die Ausnahmesituationen sind, die aber immer wieder vorkommen, ist frustrierend.
Das Gespräch führte Samuel Wyss.