Darum geht es: Politischer Druck auf die Justiz kommt nicht mehr nur von den Parteien. Vermehrt versuchen auch Nichtregierungs organisationen, Aktivistinnen oder Privatpersonen, Urteile in ihrem Sinn ausfallen zu lassen – mit Medienkampagnen, Shitstorms, Demonstrationen oder systematischen Anzeigen gegen Justizmitarbeitende. Das kann Richterinnen und Richter einschüchtern und die Rechtsprechung beeinflussen.
Beispiel eins: Der Nigerianer Mike Ben Peter starb nach einer rabiaten Festnahme in Lausanne 2018. Laut zwei rechtsmedizinischen Gutachten hatte er wegen Herzrhythmusstörungen in Kombination mit Übergewicht und Stress einen Herzstillstand erlitten. Die Polizisten wurden deshalb freigesprochen. Das führte zu Protesten. Black-Lives-Matter-Aktivisten sind der Meinung, die Polizisten hätten Mike Ben Peter getötet, weil sie ihn in Bauchlage zu Boden gedrückt hatten – ähnlich wie George Floyd in Minneapolis (USA).
Der Anwalt von Peters Angehörigen bestellte bei zwei US-Experten alternative Gutachten und verbreitete in den Medien, laut diesen sei der Herzstillstand auf das Verhalten der Polizisten zurückzuführen. Zwar haben die privaten Gutachten vor Gericht keine Beweiskraft. Doch mit der öffentlichen Meinung lässt sich Druck aufbauen – auf die nächste Instanz.
Beispiel zwei: In Basel eröffnete eine Gerichtspräsidentin das zweitinstanzliche Urteil gegen einen Vergewaltiger mündlich und begründete die Strafmilderung mit ziemlich ungeschickten Worten. Dafür wurde sie öffentlich an den Pranger gestellt, mit Shitstorm, Zeitungskommentaren und Demos vor dem Gericht. Der Druck wurde so gross, dass das Gericht etwas tat, was es sonst nie tut: Es rechtfertigte sich in einer Medienmitteilung. Das Bundesgericht verschärfte die Strafe für den Vergewaltiger schliesslich wieder.
Das sagt eine ehemalige Richterin: Dieser Druck sei problematisch für die Unabhängigkeit der Justiz, sagt Marianne Heer, die jahrzehntelang als Richterin im Kanton Luzern gearbeitet hat. «Es braucht in einem Rechtsstaat eine Kontrolle der Justiz durch die Medien und insofern ist Kritik gut, aber die Justiz zu skandalisieren, ist keine echte Kontrolle.» Heer stellte im Verlauf ihrer beruflichen Tätigkeit eine deutliche Entwicklung fest: Während die Justiz früher grosses Ansehen genoss, wird heute auf eine ungesunde Art Einfluss auf die Richterinnen und Richter genommen.
Das sagt ein Rechtshistoriker: Laut Michele Luminati vom Obwaldner Institut für Justizforschung handelt es sich um ein globales Phänomen, das jetzt auch in der Schweiz angekommen ist. «Aus anderen Ländern weiss man, dass sich die Justiz von diesem Druck beeinflussen lassen kann. Aus der Schweiz gibt es noch kaum empirische Forschung oder Zahlen, das Thema wird aber innerhalb der Justiz zunehmend diskutiert.» Zwar brauche es eine Kontrolle der Justiz durch die Öffentlichkeit, doch diese dürfe nicht in Beeinflussung ausarten. Laut Luminati müsste deshalb das Gerichtspersonal geschult werden, wie es mit diesem Druck und persönlichen Angriffen umgehen soll.
So reagieren Fachkreise: Auch bei der Schweizerischen Vereinigung der Richterinnen und Richter ist das Thema angekommen. Auf Anfrage heisst es, ihnen würden in Weiterbildungen Werkzeuge vermittelt, wie in solchen Situationen reagiert werden könne.