Tiefer Lohn und schwierige Arbeitszeiten vertreiben immer mehr Pflegefachleute aus ihrem Beruf, den sie einst mit Idealismus angetreten haben. Ungeachtet der über allem stehenden Kosten- und Lohnfrage liesse sich vom Pflegemanifest der Unia einiges gut verwirklichen, sagt Gesundheitsökonom Andreas Gerber-Grote an der ZHAW in Winterthur.
SRF News: Was hält Pflegefachleute heute überhaupt noch im Beruf?
Andreas Gerber-Grote: Viele Menschen fühlen sich weiterhin dem Ideal verbunden, Menschen im Bereich Gesundheit zu unterstützen mit Pflege und Betreuung. Sie brauchen dazu aber eine gute Arbeitsumgebung, die neben einer angemessenen Entlöhnung auch eine gewisse Selbstbestimmung zulässt, wie sie mit den einzelnen Menschen arbeiten können. Sie müssen auch auf die Dienstpläne Einfluss nehmen können, und die Arbeitgeber könnten ihnen ein betriebliches Gesundheitsmanagement anbieten.
Pflegefachpersonen müssen ihren individuellen Lebensentwurf besser mit den beruflichen Anforderungen verbinden können.
All dies kann dazu beitragen, dass Pflegende im Beruf bleiben. Ein aktuelles Beispiel zeigt etwa das Spital Bülach, welches das kurzfristige Einspringen im Dienstplan finanziell attraktiver macht. Pflegefachpersonen müssen ihren individuellen Lebensentwurf besser mit den beruflichen Anforderungen verbinden können.
Wo liegen die Stärken des Unia-Papiers?
Es ist der insgesamt partizipative Ansatz des Manifests. Es besagt, dass in der Gesundheitsversorgung – und hier besonders in der Pflege und Betreuung – alle Betroffenen gut in Lösungen eingebunden werden. Also auch die Personen, die gepflegt werden müssen sowie deren Angehörige sollen mitbestimmen können. So gibt es einzelne Einrichtungen, wo Seniorinnen und Senioren bei der Einstellung von Pflegenden mitbestimmen können.
Das klingt alles stimmig, aber auch nach idealer Welt. Wo sind die Hürden auf dem Weg zu dieser Zukunftsvision?
Es gibt tatsächliche noch zahlreiche Hindernisse. Aber gerade bei der Mitbestimmung von Betroffenen auf beiden Seiten sind die Hürden meist gering. Etwa beim selbstbestimmten Arbeiten in Teams mit weniger Hierarchie. Da hätte schon in Vergangenheit mehr getan werden können, doch erst jetzt werden solche Modelle aktuell. Höher sind die Hürden bei der besseren Entlöhnung der Pflegenden, und dass sie mehr Zeit für die einzelnen Pflegebedürftigen bekommen. Denn all dies wird entsprechend mehr kosten und allenfalls Abstriche in anderen Bereichen bedeuten.
Es geht nicht darum, Pflegebedürftige roboterhaft-effizient zu pflegen. Sie müssen schonend gut gepflegt werden.
Wird das Unia-Papier auf Widerstand stossen?
Das ist wahrscheinlich, weil es von den Gewerkschaften kommt. Man sollte das Papier aber ernst nehmen, und alle Parteien sollten es zur Kenntnis nehmen. Gerade mit Blick auf eigene Angehörige sollten sie an den Kern von Pflege und Betreuung denken. Nämlich, dass Menschen Zeit bekommen, wenn sie gepflegt werden müssen. Es geht nicht darum, Pflegebedürftige roboterhaft-effizient zu pflegen. Sie müssen vielmehr so schonend gut gepflegt werden, dass es ein menschenwürdiges Leben mit Lebensqualität bleibt.
Das Gespräch führte Christine Wanner.