Zum Inhalt springen

«Der Politik fehlt die Vision» Gestatten: Samuel Peyer, Nichtwähler

Nicht mal jeder zweite machte bei den letzten eidgenössischen Wahlen von seinem Wahlrecht Gebrauch. Mit Desinteresse an der Politik hat das keineswegs zwingend zu tun.

Er ist 62-jährig und seit fast 40 Jahren überzeugter Nichtwähler: Samuel Peyer, freischaffender Künstler aus dem aargauischen Vordemwald. Peyer ist damit in «guter» Gesellschaft. Denn: Die Mehrheit der insgesamt über 5,3 Millionen Schweizer Stimm- und Wahlberechtigten wählt nicht. Bei den letzten eidgenössischen Wahlen vor vier Jahren zum Beispiel betrug die Wahlbeteiligung bloss 48,5 Prozent.

Ich weiss schlicht nicht, wen ich wählen soll.

«Ich kann mich einfach nicht verorten. Ich weiss schlicht nicht, wen ich wählen soll», erklärt Samuel Peyer. Der gelernte Möbelschreiner und geschiedene Vater von vier Kindern ist kein Politik-Verdrossener, kein Desintressierter. Im Gegenteil: Er verfolge sehr wohl, was in der Politik in der Schweiz passiere. Und gelegentlich stimme er auch ab. Aber wählen – definitiv nicht.

Direkte Demokratie mitverantwortlich für tiefe Wahlbeteiligung

Box aufklappen Box zuklappen

Es gebe mehrere Typen von Nichtwählern, sagt Politologe Markus Freitag von der Universität Bern. Zum einen gebe es die Zufriedenen, aber Desinteressierten, die deshalb nicht wählten. Dann gebe auch solche, die zwar an Abstimmungen teilnähmen aber nicht bei Wahlen. Etwa ein Drittel aller Nichtwähler seien die Frustrierten: solche die glaubten, Politik sei zu kompliziert, sie wüssten zu wenig. Das sind Wähler, die auch überzeugt seien, dass ihre Stimme nichts zählt, dass sie nicht gehört würden.

«Im internationalen Vergleich nehmen in der Schweiz vergleichsweise wenige an der Wahl teil», sagt Politologe Freitag. Ein Grund sei die direkte Demokratie: Man könne im Nachhinein immer alles korrigieren, deshalb seien Wahlen für viele gar nicht so wichtig. Komme hinzu, dass die Chance auf einen Regierungswechsel sehr klein sei.

Das Nichtwählerlager bestehe zu etwa gleichen Teilen aus dem rechten wie auch linken politischen Spektrum, sagt Politologe Freitag.

Ihm fehle die Menschlichkeit in der Politik, sagt Peyer. Politik sei sehr theoretisch und rational, ihr fehle eine Vision für die Zukunft. Der Grund: «Weil wir in einer Welt angekommen sind, die viel zu schnell ist.»

Erst Gemeinderatskandidat, dann Nichtwähler

Peyer ist in einer Bauernfamilie mit acht Geschwistern aufgewachsen. Nach der Genesung von einem schweren Nierenleiden hängte er seinen Beruf als Möbelschreiner an den Nagel und wurde freischaffender Künstler. Sein Geld verdiente er unter anderem als Assistent des berühmten Industrie-Designers Luigi Colani, später als Teilzeit-Werklehrer.

Anfang der 1980er Jahre kandidierte er als Parteiloser in seinem Dorf für den Gemeinderat – für eine Wahl reichte es schliesslich nicht - aber immerhin für einen zweiten Wahlgang. Danach wurde Peyer Nichtwähler.

Alte sollen nicht über die Zukunft bestimmen

Heute sagt er: «Ich ärgere mich über die Verbeamtung der Politik. Da stimmt etwas nicht. Ein Nationalratsmandat sollte nicht länger als 12 Jahre dauern. Danach muss Schluss ein, Platz gemacht werden für neue Leute und neue Ideen.» Im Bundeshaus gebe es Sesselkleber, die darauf noch stolz seien.

Und Peyer fordert, dass auf Bundesebene mit 65 Jahren auch mit dem Stimm-und Wahlrecht fertig sein sollte. Da gehe es in der Politik doch um die Zukunft, um die nächste Generation. Die über 65-Jährigen sollten sich zwar dazu äussern können. Aber nicht mehr darüber abstimmen und wählen.

2279 Stimmen für die Nichtwähler-Partei

2015 wollte Samuel Peyer noch einmal etwas ganz Neues, Grosses anpacken und trat mit einer eigenen Liste für die eidgenössischen Wahlen an: «nichtwähler.ch». Er trete für die Nichtwähler an und die seien bekanntlich die Mehrheit, erklärte der unkonventionelle Kandidat damals. Er, der Einzige auf seiner Liste, erreichte 2279 Stimmen: Nicht genug für den Einzug in den Nationalrat.

Peyer in seinem Garten
Legende: Als «Human-Anarchist» sieht sich Peyer. Mit seinem Leben und seiner Kunst ist er im Reinen: «Hier ist meine Seele.» SRF / Peter Maurer

Und wenn er gewählt worden wäre? Peyer sagt: «Ich war bislang vom Morgen bis am Abend Künstler. Nach einer Wahl hätte ich hier alles aufgegeben und wäre vom Morgen bis am Abend Politiker geworden. Samuel Peyer ist Künstler geblieben, lebt immer noch in Vordemwald. Inmitten seiner Eisenplastiken, Skulpturen, Collagen, Bilder und Bücher. «Hier ist meine Seele, hier ist mein ruhiger, friedlicher Alltag, den ich geniesse».

Keine schlechte Wahl für einen Nichtwähler.

Wahlserie «Wendepunkte»

Box aufklappen Box zuklappen

Wieso engagiert sich jemand politisch? Oder wieso geht jemand nicht mehr wählen? «Rendez-vous» und «Echo der Zeit» haben in einer losen Serie Menschen vorgestellt, die sich in einem neuen Lebensabschnitt befinden.

Der Nichtwähler

Die Unternehmerin

Die Alleinerziehende

Die Einbürgerungskandidatin

Der Tourismusdirektor

Die Heimbewohnerin

Meistgelesene Artikel