Aufrüsten! Mehr Waffen! Das ist seit dem 24. Februar für viele Regierungen das Gebot der Stunde. Der russische Präsident Wladimir Putin hat mit seinem Befehl zum militärischen Angriff auf die Ukraine die Illusion des «ewigen Friedens» in Europa beendet.
Aber macht es wirklich Sinn, wenn jetzt eine Regierung nach der anderen ihr Militärbudget erhöht? Müssen wir akzeptieren, dass ein Grossteil unserer Steuern wieder aufgewendet wird für die Abwehr der Kriegsgefahr?
In der Schweiz lautet die Antwort der bürgerlichen Mehrheit im Parlament: Ja, wir brauchen wieder eine stärkere Armee. Dagegen hat Georg Häsler, Journalist bei der «NZZ» und Oberst im Heeresstab der Armee, grundsätzlich nichts einzuwenden. «Es geht jetzt vor allem darum, dass die Armee voll ausgerüstet wird, und zwar mit dem richtigen Material.»
Alleingang der Schweiz ist Geschichte
Doch hätte die Schweiz gegen einen Feind wie Russland überhaupt eine Chance? «Wir wären nicht chancenlos», betont Häsler. Denn die Schweiz verfüge nicht nur über eine Armee, sondern auch das Gelände sei hilfreich, mit Bergen, Seen, Schluchten, also vielen natürlichen Hindernissen.
Im Gegensatz zu früher wäre es der Schweiz aber nicht möglich, so wie die Ukraine über Wochen und Monate einem starken Aggressor standzuhalten. Dafür bräuchte sie Bündnispartner. «Vielleicht ist das die Erkenntnis, die weh tut», sagt Häsler. «Dass man auch in der Verteidigung auf Partner angewiesen ist. Es geht nicht mehr alles allein. Das ist ein Mythos. Das ist Geschichte.»
Das Schmelzen der Gletscher macht mir genauso viel Sorgen wie die machtpolitischen Ambitionen von China oder Russland.
Ein weiterer Punkt ist Häsler wichtig: Der Krieg in der Ukraine darf nicht andere Bedrohungen aus unserem Bewusstsein verdrängen. Es sei richtig, dass geopolitische Bedrohungen wieder ernster genommen werden. «Aber es darf nicht der Moment sein, in dem man schnell etwas aufrüstet», sagt Häsler. «Ich hoffe sehr, dass die jetzige Debatte Herausforderungen wie den Klimawandel nicht verdrängt. Das Schmelzen der Gletscher macht mir genauso viel Sorgen wie die machtpolitischen Ambitionen von China oder Russland.»
Krieg gehört nicht zu Top-3-Risiken
Mit dem 24. Februar hat sich also eines klar verändert: Der Krieg ist nicht mehr ein Szenario, bei dem alle denken «Passiert sowieso nie!». Die Armee soll mehr Geld bekommen, darin sind sich National- und Ständerat einig.
Unklar bleibt aber, mit wem zusammen sich die Schweiz verteidigen würde und welche militärischen Fähigkeiten sie in ein solches Bündnis einbringen müsste. Und unklar bleibt auch, welche Priorität der militärische Angriff in den Sicherheitsüberlegungen der Schweiz haben muss im Vergleich zu anderen Risiken.
Im Bundesamt für Bevölkerungsschutz gibt es eine Abteilung, die umfassende Risikoanalysen erstellt. Stefan Brem ist dort Chief Risk Officer. Die jüngste Analyse stammt aus dem Jahr 2020. Brem und sein Team bewerteten darin jedes Sicherheitsrisiko nach der Höhe der Schäden, die entstehen könnten und nach der Plausibilität, dass ein Schadenereignis eintrifft.
Bundesamt für Bevölkerungsschutz
«Basierend auf der Analyse von 2020 ist die Strommangellage das grösste Risiko», sagt Brem, «gefolgt von der Pandemie. Wir untersuchten damals neu auch den Mobilfunkausfall, der schaffte es gleich in die Top drei.» Der bewaffnete Konflikt wird in der Analyse nicht mit einer Plausibilität bewertet, laut Brem, weil es ein «zu komplexes Szenario» ist.
Mit anderen Worten: Die drei grössten Sicherheitsrisiken der Schweiz sind alles solche, die nicht mit militärischen Mitteln kontrolliert werden können.
Wenige Tage nach dem russischen Überfall auf die Ukraine hat auch der liberale Think Tank Avenir Suisse eine Studie zur Sicherheitspolitik der Schweiz veröffentlicht. Sie nimmt Bezug auf die Risikoanalyse von Brem und seinem Team.
Avenir-Suisse-Direktor Peter Grünenfelder fordert im Vorwort der Studie, die Schweiz müsse «ehrlicher als bisher in den Spiegel schauen». Und weiter fragt er sich, «ob angesichts der zahlreichen Bedrohungslagen unser Kleinstaat überhaupt in der Lage ist, auch mit allenfalls aufgestockten Sicherheitsbudgets für eine allumfassende Verteidigungsfähigkeit zu sorgen».
Von solch einem «ehrlich in den Spiegel schauen» war in den bisherigen Parlamentsdebatten über das Armeebudget wenig zu sehen.
Kein Zurück zum «Gesetz des Dschungels»
Während Jahrhunderten war der Krieg allgegenwärtig. Es war üblich, dass mächtige Länder schwächere eroberten. Die Regenten gaben für nichts so viel Geld aus wie fürs Militär. Der israelische Historiker und Bestsellerautor Yuval Noah Harari spricht in diesem Zusammenhang von einer Welt, in der das «Gesetz des Dschungels» herrschte.
Dann kam das Jahr 1945: Der Angriffskrieg wurde von der Staatenwelt geächtet. Unter dem Dach der Vereinten Nationen entstand eine Ordnung, in der das Recht Vorrang hat gegenüber militärischer Gewalt. «Wir haben in den letzten Jahrzehnten in einer unglaublichen Ära des Friedens gelebt», sagte Harari im März in einem TED-Talk. Und das sei nicht «irgendeine Hippie-Fantasie» gewesen, sondern das Resultat von «Menschen, die bessere Entscheide trafen und bessere Institutionen aufbauten».
Das alles sei nach Putins Überfall auf die Ukraine in Gefahr. Darum sei es jetzt so wichtig, dass die Staaten die «richtigen» Entscheide treffen, betonte Harari. Mit «richtig» meinte er: Das Militärische darf nicht wieder die Oberhand gewinnen, sonst drohe der Rückfall in die «Ära des Krieges». Und es fehlten Mittel und Energien zur Lösung anderer grosser Menschheitssorgen.
Pazifistinnen und Pazifisten mit schwerem Stand
Aber ist das wirklich realistisch, Putin und seine Armee ohne Waffengewalt zu stoppen? Aus Sicht des ukrainischen Volkes ist die Antwort offensichtlich: Sich verteidigen ist die einzige Option. Dafür hat auch eine überzeugte Pazifistin wie Vanessa Bieri Verständnis. Sie ist Aktivistin bei der Gruppe Schweiz ohne Armee (GsoA). Sie macht kein Geheimnis daraus, dass es in Kriegszeiten schwierig ist, eine pazifistische Position zu vertreten – erst recht, wenn man in einem Land lebt wie der Schweiz, das seit Generationen keinen Krieg mehr erlebt hat.
In einer Situation wie in der Ukraine, mit Menschen, die täglich um ihr Überleben kämpfen müssen, da sei der Gedanke naheliegend: Waffen gegen Waffen! Trotzdem ist Bieri gegen Waffenlieferungen an die Ukraine. «Das kann längerfristig nicht das Ziel sein, dass wir jetzt Waffen liefern und dann nach dem Krieg schauen, wie es weitergehen soll.» Vielmehr müsse die Staatenwelt alle nicht-militärischen Mittel ausschöpfen, um der Ukraine zu helfen. Zum Beispiel mit Sanktionen.
Genau das versucht die westliche Staatenwelt zu tun. Mit einer Geschlossenheit wie selten zuvor hat sie die russische Aggression verurteilt und gegen Putin und seine Gefolgsleute Sanktionen verhängt. Sie unterstützt die Ukraine mit Waffen, ohne sich direkt an den Kampfhandlungen zu beteiligen.
Ob das reicht, um den russischen Tyrannen und seine Armee zu stoppen, ist ungewiss. Erst recht, weil es in der Anti-Putin-Front Risse gibt. Aber es wäre die «richtige» Antwort, wie sie der Historiker Harari fordert, und ein klares Signal an alle: Wer sich stark fühlt und denkt, er könne einfach seinen Nachbarn überfallen, der kommt damit heutzutage nicht mehr durch.