Das Schreckensszenario aller Ökonominnen und Notenbanker ist die Stagflation: Stagnation und Inflation zugleich ist besonders kritisch. Denn es bedeutet, dass die Preise weiter in die Höhe schiessen, obschon sich die Konjunktur abkühlt.
In einer normalen Wirtschaftsflaute ist es anders. Da sinken gewöhnlich auch die Preise. Und das lindert für die Konsumentinnen und Konsumenten die Schmerzen des Abschwungs, weil – ohne Inflation – wenigstens die Kaufkraft der Löhne gesichert ist. Nun aber, sagt Gita Gopinath, die stellvertretende Chefin des Internationalen Währungsfonds IWF, sei die Gefahr einer Stagflation in Teilen Europas real. Es drohen also Wachstumseinbrüche mit hoher Inflation.
Europas Wirtschaft spüre bereits den Inflationsdruck durch die erhöhten Energie-, Rohstoff- und Nahrungsmittelpreise empfindlich. Der Ukraine-Krieg und die Sanktionen gegen Russland hätten diesen Druck erhöht, sagt die indisch-amerikanische Ökonomin im Gespräch mit SRF News. Aber sie rechne nicht damit, dass allein deshalb schon die Wirtschaft ins Stocken gerät. Es sei noch möglich, gegen die Inflation vorzugehen. Konkret: Die Europäische Zentralbank EZB könne die Zinsen anheben, um die Inflation zu bändigen, ohne damit gleich die Konjunktur abzuwürgen.
Lagarde: Zeit ist reif für Zinserhöhung
Tatsächlich liess EZB-Chefin Christine Lagarde, ebenfalls zugegen am WEF, diese Woche in einem Blog-Beitrag durchblicken: Im Sommer sei voraussichtlich die Zeit reif für die ersten, schrittweisen Zinserhöhungen nach langer Zeit. Ob die EZB damit allerdings auch effektiv die Teuerung unter Kontrolle bringen kann, ist fraglich.
Denn gegen wichtige Treiber, etwa die Verknappung russischer Gas-Lieferungen oder die Störung globaler Lieferketten durch Corona und den Ukraine-Krieg, seien Notenbanken grundsätzlich machtlos, sagt der britische Wirtschaftshistoriker Adam Tooze, der an der amerikanischen Columbia-Universität lehrt. Es gebe nicht mehr Benzin oder Gas zu kaufen, nur weil man die Zinsen erhöhe, gibt Tooze zu Bedenken. Da müssten die Notenbanken schon mit dem Holzhammer vorgehen und die gesamtwirtschaftliche Nachfrage niederschmettern, mit einem absichtlich herbeigeführten Zinsschock statt leichten Zinsanpassungen.
Und klar sei: Das werde EZB-Chefin Lagarde nie und nimmer tun. Eine solch brachiale Politik erwartet niemand von der Europäischen Zentralbank.
Teuerungssorgen ernst nehmen
Stattdessen geht es aus Sicht vieler Ökonominnen und Ökonomen nun darum, primär die Inflationserwartungen der Bevölkerung und der Unternehmen zu beeinflussen. Es könnte demnach schon einiges bringen, wenn die EZB signalisiert, dass sie die Teuerungssorgen der Leute ernst nimmt, die an der Zapfsäule und beim Einkaufen immer mehr bezahlen müssen. Und dass die EZB aufhört, die Wirtschaft mit billigem Geld zu fluten. So gesehen sei es ratsam, eher früher als später die Zinsen zu erhöhen, meint auch Gopinath vom IWF.
Selbst bei einer ersten Zinserhöhung der EZB bereits diesen Sommer wäre das lediglich eine Normalisierung der Geldpolitik.
Schon weiter ist man in den USA, wo die Notenbank die Zinsen dieses Jahr schon zwei Mal erhöht hat – und zusätzliche Schritte ankündigte. Allerdings: In den USA ist die Inflation auch viel mehr ein hausgemachtes Problem, sagt der Harvard-Professor Jason Furman. Jetzt müsse die US-Notenbank handeln und allenfalls sogar eine milde Rezession in Kauf nehmen. Ansonsten drohe nämlich eine grosse Rezession wegen der überbordenden Inflation.