Die Anzeigetafel am Frankfurter Hauptbahnhof ist voller Verspätungsmeldungen. Christian Kopf ärgert sich: «Allen ist bewusst, dass wir eine marode Infrastruktur haben», sagt der Chef des Portfoliomanagements der Bank Union Investment. Dutzende Milliarden Euro wären nötig für Digitalisierung, Dekarbonisierung, Infrastruktur und Landesverteidigung, sagt Kopf. Die Lockerung der Schuldenbremse sei dringend.
Deutschland fehlt für alle nötigen Investitionen derzeit das Geld. Die 2009 während der Finanzkrise beschlossene Schuldenbremse beschränkt die jährliche Neuverschuldung auf Bundesebene auf 0.35 Prozent des Bruttoinlandproduktes. Jetzt sei Krieg, ein Grossmachtwettbewerb und die Wirtschaft brauche Impulse, so Kopf: «Wir dürfen die Antwort von damals nicht auf immer beibehalten.»
Aufweichen der Schuldenbremse
Der Volkswirt ist Mitglied von Bündnis 90/Die Grünen. Vor allem links der Mitte will die Politik die Schuldenbremse aufweichen, allen voran Kanzler Scholz. Doch selbst Angela Merkel, deren Finanzminister Wolfgang Schäuble stets auf Haushaltsdisziplin pochte, spricht sich heute für deren Flexibilisierung aus; wie das liberale britische Magazin «Economist» oder der Sachverständigenrat für Wirtschaft in Deutschland, die sogenannten Wirtschaftsweisen.
Doch einig ist sich die Ökonomie nicht. Volker Wieland, Professor für monetäre Ökonomie an der Goethe-Universität Frankfurt, war bis 2022 im Gremium der Wirtschaftsweisen. «Deutschland ist gut gefahren mit der Schuldenbremse», sagt Wieland vor dem meterhohen blauen Eurodenkmal inmitten von Frankfurts Bankenviertel.
Die Schuldenbremse zwinge, Prioritäten zu setzen. Länder wie die Schweiz mit tieferen Staatsschulden als Deutschland hätten höhere Investitionstätigkeiten, mehr Wachstum und eine bessere Infrastruktur. Der Finanzprofessor anerkennt den Investitionsbedarf, mahnt aber vor Staatsspritzen. Eher sollen bessere wirtschaftliche Rahmenbedingungen private Investitionen anregen.
Deutschlands Schuldenquote von rund 60 Prozent des Bruttoinlandproduktes liegt unter dem EU-Schnitt. Das stabilisiere die Währungsunion, sagt Wieland. «Wenn Deutschland wie Italien oder Frankreich auf gegen 100 Prozent steigt, gefährdet das die Stabilität des Euros fundamental.» Das sei übertrieben, erwidert Christian Kopf. Er und viele andere Ökonomen wollen die Schuldenbremse nicht aufheben, sondern lockern. Die gut bewerteten deutschen Staatsanleihen würden auch dann noch gut nachgefragt, so Kopf.
Parteien versprechen Neuinvestitionen
Diese Diskussion führt die Politik so nicht. Im Wahlkampf versprechen die meisten Parteien Neuinvestitionen. Wenige erzählen, wie das bezahlt werden soll. Kanzlerfavorit Friedrich Merz, der die Schuldenbremse grundsätzlich verteidigt, deutete jüngst an, deren Lockerung sei diskussionswürdig.
Die Schuldenbremse wackelt also. Die Unzufriedenheit der Bevölkerung mit Wirtschaft und Infrastruktur wiegt schwer. Beide Ökonomen erwarten deshalb, dass die nächste Bundesregierung die Regel ändern wird – was den einen freut und den anderen besorgt.