Dank Pornografie im Überfluss oder unzähligen Dating- und Seitensprungportalen wie Tinder, Parship & Co., gleicht das Angebot an Sex heutzutage einem saftigen Buffet zur freien Selbstbedienung. Doch unsere Gesellschaft ist übersättigt.
Wirft man einen Blick auf den sogenannten «Partner-Sex» – also Sex mit einer anderen Person innerhalb oder ausserhalb einer Beziehung – findet dieser in Deutschland pro Monat durchschnittlich sechsmal statt. Auch in Frankreich, den USA und der Schweiz zeigt der Trend einen Rückgang.
Für die Sexologin Caroline Fux ist das nicht überraschend: «Die Menschen sind übersättigt, weil sie glauben, möglichst viel und tollen Sex haben zu müssen. Hinzu kommt eine globale Stimmung, die eher belastet, als Lust macht, sich sinnlich zu entfalten.»
Viel Sex ist gesund – wenig Sex ungesund?
Unsere Libido ist also auf Talfahrt. Betroffen sind alle Altersgruppen, Gesellschaftsschichten und Bildungsniveaus. Egal ist auch, ob Menschen homosexuell oder heterosexuell sind, in Partnerschaften leben oder als Singles.
In diesem Zusammenhang kritisiert Caroline Fux: Viel Sex, das suggeriere Attraktivität, körperliche und mentale Fitness, also «Gesundheit».
Aber ist wenig Sex dann ungesund? Das sei abwegig, meint die Sexologin, gibt jedoch zu bedenken: «Werden Sexualorgane nicht gebraucht, kann dies zu Sensibilitätsstörungen oder Missempfindungen führen. Vor allem nach einer längeren Pause ohne Sex klappt dann möglicherweise nicht alles wieder auf Anhieb so gut, wie vorher.»
Perfekter Sex? Existiert nur im Kopf
Der Sexualtrieb ist ein natürliches Bedürfnis jedes Menschen. Eine Erkenntnis der Sexualwissenschaft ist jedoch: Lust ist nicht nur biologisch bedingt, sondern auch ein soziales und historisches Konstrukt.
Wichtige Meilensteine finden sich in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts: die sexuelle Liberalisierung, Einführung der Pille, dann die Legalisierung der Abtreibung. All dies führte zu Sex innerhalb und ausserhalb von Beziehungen «einfach so zum Spass» und ohne Angst vor ungewollten Kindern.
Gleichzeitig wird Sexualität auch immer mehr zu einem Statussymbol: mit wem hat man Sex? Oder wie oft und wie aussergewöhnlich oder exklusiv ist der Akt? Soziologen sind deshalb überzeugt: Der kulturelle und gesellschaftliche Einfluss auf unser Sexualleben führt zu der Entstehung von «Scripts». In unserem Kopf entwerfen wir dann eine Art Drehbuch für den «perfekten» Sex, mit klar definierten Rollen, Szenen und Situationen.
Wie Menschen mit dem gesellschaftlichen Erwartungsdruck umgehen, das ist eine Frage ihrer sexuellen Kompetenz.
Die Wahrscheinlichkeit, an solchen Erwartungen in der Realität zu scheitern, ist gewaltig. Und nicht alle haben Lust und das Bedürfnis, diesen sexuellen Erwartungen zu entsprechen.
Caroline Fux warnt deshalb: «Manche wünschen sich mehr Sexualität, andere weniger oder eine ‹stillere› Art der Lust, finden jedoch dafür kein Gegenüber. Wie Menschen mit dem gesellschaftlichen Erwartungsdruck umgehen, das ist eine Frage ihrer sexuellen Kompetenz.»
Pornografie: Lustmacher oder Lustkiller?
Verschämt Pornoheftchen am Kiosk kaufen? Das ist lange vorbei. Sex in allen Variationen ist dank des Internets nur wenige Klicks entfernt und allzeit konsumierbar. Und wer will, produziert daheim eigene Pornos und stellt sie online.
Erst in den 1970er-Jahren wurde die Pornografie legalisiert. Angeblich, damit sich Erwachsene von allzu bünzligen Moralvorstellungen befreien und ihre ganz persönliche Sexualität entdecken.
Inwiefern der Konsum von Pornografie heutzutage weniger Partnersex zur Folge hat, darauf hat auch Caroline Fux keine Antwort. Aber: egal ob man gemeinsam oder lieber allein Pornos schaut, wenn es hilft, dem Gegenüber erotische Wünsche zu kommunizieren, dann sei das doch prima.
Was aber, wenn die Partnerin oder der Partner Pornografie zur Selbstbefriedigung heimlich konsumiert? Die Sexologin mahnt zur Gelassenheit: «Primär darf man die Solo-Sexualität einer anderen Person nicht persönlich nehmen. Es ist ein privater und intimer Lebensbereich mit ganz eigenen Geheimnissen.»
Gibt es eigentlich Risiken beim Schauen von Pornos? Caroline Fux findet: Nein, solange man die Menge des Konsums im Griff habe. Auf ein Suchtverhalten könne man dann schliessen – eher der Fall bei Männern – wenn Pornografie im Terabytebereich heruntergeladen wird, obwohl es unmöglich sei, alles zu konsumieren.
Auch das Thema «Reizsteigerung» dürfe man nicht verharmlosen, so Fux: «In dem Fall nimmt die Abstumpfung bei gewissen Thematiken ab. Geschaut werden dann Pornos – je extremer, desto besser.»
Mehr Lust zur Unlust
Es gibt also weniger Partnersex, aber das muss ja nicht schlecht sein. Im Gegenteil: Möglicherweise ist es eine Errungenschaft der heutigen Zeit, dass die Menschen weniger, aber dafür besseren Sex möchten? Einfach mehr Lust auf die Erotik, die zu einem passt? Denn die Gesellschaft ändert sich: wenn es um Sex geht, dann gibt es auch dank der Emanzipation und der #MeToo-Bewegung viel stärkere Aushandlungsprozesse als früher.
Frequenz ist unwichtig in der Sexualität. Viel wichtiger ist das Streben nach Genuss und Erfüllung.
Die Konsensmoral, dass nur, wenn beide es wirklich wollen, es auch zum Sex kommt, ist auf dem Vormarsch. Was die Sexologin Caroline Fux den Personen und Paaren rät, die bei ihr nach Hilfe suchen, ist, die Häufigkeit von Sex nicht zum Massstab aller Dinge zu machen.
«Frequenz ist unwichtig in der Sexualität», betont Caronline Fux. «Viel wichtiger ist das Streben nach Genuss und Erfüllung. Wenn sich da etwas entwickelt, spielt die Frage nach der Häufigkeit keine Rolle. Sinnlichkeit findet nicht nur im Bett statt, sondern in allen Lebensbereichen.»