«Jahrhundert der Extreme» nannte der britische Historiker Eric Hobsbawn das 20. Jahrhundert. Und weil der Kampf um die Herzen und Köpfe auch mit den Mitteln des Filmes geführte wurde, steckte die vor 100 Jahren gegründete Praesens-Film AG mittendrin in diesen Umwälzungen, die die Schweiz bis heute prägen.
Angefangen hatte alles 1924: Der aus dem damaligen Russisch-Polen stammende Schweizer ETH-Ingenieur Lazar Wechsler gründete zusammen mit dem Fotografen, Filmer und Flugpionier Walter Mittelholzer in Zürich die Praesens-Film AG.
Zusammengefunden hatten die beiden, weil Lazar Wechsler für seinen Einstieg ins Werbefilm-Geschäft eine Kamera benötigte. Walter Mittelholzer dagegen, weil er über die Beteiligung an einer Filmverleihgesellschaft hoffte, seine Expeditionsfilme im Kino zu seinen Konditionen auswerten zu können.
Die ersten zehn Jahre der Praesens-Film standen im Bann von Film-Werbung, internationaler Expansion und von Mittelholzers Versuch, die exotische Welt fürs Massenpublikum einzufangen.
Dann die Jahre zwischen 1933 und 1945: In der Phase zwischen Machtübernahme der Nazis und Ende des Zweiten Weltkrieges positionierte sich das Zürcher Unternehmen mit Dialektfilmen im Geiste der sogenannten «geistigen Landesverteidigung» gegen Hitlers mörderischen Totalitarismus.
Plötzlich an der Propagandafront
Eine Monopolstellung hatte Praesens-Film erlangt, weil die offizielle Eidgenossenschaft das Medium Film lange hatte links liegen lassen. Bis es, als 1933 die Machtübernahme der medial ausgebufften Nazis eine Schweizer Reaktion unumgänglich machte, zur Zürcher Produktionsgesellschaft keine Alternative gab. Praesens-Film wurde so über die Herstellung von Spielfilmen für die geistige Landesverteidigung zum quasi staatstragenden Betrieb.
Gelder aus Bern gab es zwar keine. Trotzdem stiess die Wahl von Lazar Wechslers Firma – Mittelholzer war 1937 tödlich verunglückt – in konservativen und Nazi-nahen Schweizer Kreisen auf heftigen Widerstand.
Denn mit Praesens-Film stand eine Produktionsgesellschaft an der Propagandafront, in der liberale und linke Schweizer Antifaschisten, Emigranten, Kommunisten und Juden ein wertkonservatives Bild formten. Dieses definierte die Eidgenossenschaft als «Sonderfall», um die Schweiz vom Totmacher-Totalitarismus abzusetzen.
Stets haarscharf am Konkurs vorbei
Filmgranaten für die geistige Landesverteidigung verfertigten in der Folge unabhängige Freigeister: die beiden Regisseure Leopold Lindtberg und Franz Schnyder, die Drehbuchschreiber Richard Schweizer und Horst Budjuhn oder Schauspielerinnen und Schauspieler wie Heinrich Gretler und Anne-Marie Blanc.
Dass dies erfolgreich gelang, grenzt an ein Wunder. Denn die Praesens-Truppe realisierte ihre Filme immer haarscharf am Konkurs vorbei. Und gegen jene Schweizer Nazi-Sympathisanten, Antisemiten und Kriegsgewinnler, die die Firma scheitern sehen wollten.
Unterstützung aber gab es vom Schweizer Kinopublikum, das heutige Klassiker wie «Füsilier Wipf» (1938), «Wachtmeister Studer» (1939), «Landammann Stauffacher» oder «Gilberte de Courgenay» (beide 1941) zu einzigartigen Publikumserfolgen machte.
Die Schweiz als Friedensinsel?
Als die Schweizer Behörden 1942 die Grenzen für jüdische Flüchtlinge schlossen, reagierten Wechsler und seine Leute darauf mit Spielfilmen, die die humanitäre Tradition der Eidgenossenschaft in den Mittelpunkt stellten.
Es waren dies das während des Krieges gedrehte und 1946 mit einem Oscar prämierte Drama «Marie-Louise» sowie Lindtbergs eindringlicher Flüchtlingsfilm «Die letzte Chance» (1945). Schliesslich klang auch in dem nach dem Krieg zusammen mit Hollywood produzierten Oscar-Film «The Search» («Die Gezeichneten», 1948) das Schweizer Selbstbild als untadelige Friedensinsel weiter mit.
Als die siegreiche Anti-Hitler-Koalition (USA, GB und Sowjetunion) zerbrach, wurde in der Schweiz der Antikommunismus quasi zur Staatsdoktrin erhoben. Die geistige Landesverteidigung, die ursprünglich einmal gegen Faschismus und Kommunismus gestanden hatte, wurde allein gegen den Kommunismus gewendet. So geriet Praesens-Film mit ihrem humanistisch-aufgeklärten, weltbürgerlichen Programm während des Kalten Krieges in die Defensive.
Grosserfolge mit «Heidi»-Filmen
Erschwert wurde die zwingende Neupositionierung durch Lazar Wechslers starrsinniges Festhalten an der Produktion von Schweizer Filmen für den internationalen Markt. Gleichwohl gelangen ihm zwei letzte, grosse internationale Erfolge: 1952 mit «Heidi» sowie 1955 mit dem Nachfolger «Heidi und Peter».
Dabei vermied «Heidi»-Regisseur Luigi Comencini im Fahrwasser des damals populären Heimatfilmkitsches zu segeln. Er rettete damit etwas von jenem humanistischen Geist früherer Praesens-Filme in die zweite Jahrhunderthälfte.
Doch der Strukturwechsel in der Medienbranche, befeuert durch das Aufkommen des Fernsehens, brachte Wechslers Firma erneut auf Schlingerkurs. Dies auch deshalb, weil sich nach den beiden «Heidi»-Filmen keine aussichtsreichen, international verwertbare Schweizer Stoffe mehr anzubieten schienen.
Dürrenmatt sorgte für den letzten Klassiker
Den Ausweg weisen sollte die Kooperation einerseits mit Schweizer, andererseits westdeutschen Produktionsgesellschaften. Resultat waren Dialektfilmerfolge wie Franz Schnyders «Uli der Pächter» (1955) oder Kurt Frühs «Hinter den sieben Gleisen» (1959).
Westdeutschen Produzenten bot Wechsler die Investition in Aufklärungsfilme an, ein Genre, das ihm bereits 1930 Glück gebracht hatte. Praesens-Film war damals mit dem von Sergej Eisenstein mitverantworteten halbdokumentarischen Abtreibungsfilm «Frauennot – Frauenglück» ein erster kapitaler internationaler Kinohit gelungen.
Um die Sache aufzupfeffern, engagierte Wechlser 1958 Friedrich Dürrenmatt, der ihm das Drehbuch zu einem Pädophilie-Warnfilm schrieb. Dieses wurde unter dem Titel «Es geschah am hellichten Tage» verfilmt. Der Thriller, der im deutschsprachigen Raum für einiges Aufsehen sorgte, sollte die letzte Praesens-Produktion bleiben, die später Klassiker-Status erlangte.
Streit um Fördermittel
Für Aufsehen sorgten danach vor allem noch Wechslers wütende Konfrontation mit der jungen Schweizer Filmgeneration. Vor allem im Rahmen der damals initiierten Solothurner Filmtage kochten die Emotionen hoch.
Ein zentraler Konfliktpunkt war das seit kurzem verteilte staatliche Filmförderungsgeld, das zum Leidwesen Wechslers nicht an die Produktionshäuser, sondern zweckgebunden an einzelne Projekte vergeben wurden. Das empfand er als Zumutung, schliesslich wüssten private Produzenten besser als praxisferne Beamte, was das Publikum sehen will.
Wiedergeburt dank grossem Filmschatz
Als Lazar Wechsler 1981 starb, hatte Praesens-Film die Produktion von Filmen längst aufgegeben. Das Unternehmen aber überlebte dank der beiden im globalen Filmmarkt gut vernetzten Brüder Hellstern, die das heruntergewirtschaftete Produktionshaus übernahmen, sanierten und im Medienmarkt neu positionierten.
Umgebaut zu einer Art Archiv des alten Schweizer Filmes vertrieb Praesens-Film ihren Schatz in den vergangenen 40 Jahren zuerst weiter im Kino, dann im Fernsehen, auf VHS, DVD und schliesslich für diverse Streaming-Plattformen.
Die Firma, die die Gegenwart in ihrem Namen trägt, sorgt so, unterstützt von der Cinémathèque Suisse, Memoriav und dem Schweizer Radio und Fernsehen SRF, mit liebevoll restaurierten Filmkopien dafür, dass auch in Zukunft das Fenster zur Vergangenheit des Schweizer Filmes geöffnet bleibt.