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100 Jahre Praesens-Film Mit Füsilier Wipf gegen die Nazis

Aufstieg und Fall einer Schweizer Filmgesellschaft: Die Geschichte der vor 100 Jahren gegründete Praesens-Film ist geprägt von den grossen Umwälzungen des 20. Jahrhunderts.

«Jahrhundert der Extreme» nannte der britische Historiker Eric Hobsbawn das 20. Jahrhundert. Und weil der Kampf um die Herzen und Köpfe auch mit den Mitteln des Filmes geführte wurde, steckte die vor 100 Jahren gegründete Praesens-Film AG mittendrin in diesen Umwälzungen, die die Schweiz bis heute prägen.

Angefangen hatte alles 1924: Der aus dem damaligen Russisch-Polen stammende Schweizer ETH-Ingenieur Lazar Wechsler gründete zusammen mit dem Fotografen, Filmer und Flugpionier Walter Mittelholzer in Zürich die Praesens-Film AG.

Benedikt Eppenberger

Filmhistoriker und Redaktor

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Benedikt Eppenberger hat als Redaktor bei verschiedenen Tageszeitungen gearbeitet, seit 2004 beim Schweizer Radio und Fernsehen SRF. Er ist zudem als freier Kulturjournalist, Drehbuchautor und Zeichner tätig und hat zuletzt ein Buch zu 100 Jahre Praesens-Film geschrieben: «Heidi, Hellebarden & Hollywood», NZZ Libro, 2023.

Zusammengefunden hatten die beiden, weil Lazar Wechsler für seinen Einstieg ins Werbefilm-Geschäft eine Kamera benötigte. Walter Mittelholzer dagegen, weil er über die Beteiligung an einer Filmverleihgesellschaft hoffte, seine Expeditionsfilme im Kino zu seinen Konditionen auswerten zu können.

Die ersten zehn Jahre der Praesens-Film standen im Bann von Film-Werbung, internationaler Expansion und von Mittelholzers Versuch, die exotische Welt fürs Massenpublikum einzufangen.

Dann die Jahre zwischen 1933 und 1945: In der Phase zwischen Machtübernahme der Nazis und Ende des Zweiten Weltkrieges positionierte sich das Zürcher Unternehmen mit Dialektfilmen im Geiste der sogenannten «geistigen Landesverteidigung» gegen Hitlers mörderischen Totalitarismus.

Plötzlich an der Propagandafront

Eine Monopolstellung hatte Praesens-Film erlangt, weil die offizielle Eidgenossenschaft das Medium Film lange hatte links liegen lassen. Bis es, als 1933 die Machtübernahme der medial ausgebufften Nazis eine Schweizer Reaktion unumgänglich machte, zur Zürcher Produktionsgesellschaft keine Alternative gab. Praesens-Film wurde so über die Herstellung von Spielfilmen für die geistige Landesverteidigung zum quasi staatstragenden Betrieb.

Ein verletzter Soldat der Schweizer Armee vor dem Cinema Fédéral, das den Spielfilm «Füsilier Wipf» zeigte.
Legende: Ein verletzter Soldat der Schweizer Armee vor dem Cinema Fédéral, das im Kriegsjahr 1940 den Spielfilm «Füsilier Wipf» zeigte. KEYSTONE/PHOTOPRESS-ARCHIV/Walter Henggeler

Gelder aus Bern gab es zwar keine. Trotzdem stiess die Wahl von Lazar Wechslers Firma – Mittelholzer war 1937 tödlich verunglückt – in konservativen und Nazi-nahen Schweizer Kreisen auf heftigen Widerstand.

Denn mit Praesens-Film stand eine Produktionsgesellschaft an der Propagandafront, in der liberale und linke Schweizer Antifaschisten, Emigranten, Kommunisten und Juden ein wertkonservatives Bild formten. Dieses definierte die Eidgenossenschaft als «Sonderfall», um die Schweiz vom Totmacher-Totalitarismus abzusetzen.

Stets haarscharf am Konkurs vorbei

Filmgranaten für die geistige Landesverteidigung verfertigten in der Folge unabhängige Freigeister: die beiden Regisseure Leopold Lindtberg und Franz Schnyder, die Drehbuchschreiber Richard Schweizer und Horst Budjuhn oder Schauspielerinnen und Schauspieler wie Heinrich Gretler und Anne-Marie Blanc.

Anne-Marie Blanc im Film «Wachtmeister Studer» in einem Auton eben Heinrich Gretler.
Legende: Anne-Marie Blanc war der erste weibliche Filmstar der Schweiz – hier bei ihrem Debüt im Film «Wachtmeister Studer» neben Heinrich Gretler. Cinémathèque suisse

Dass dies erfolgreich gelang, grenzt an ein Wunder. Denn die Praesens-Truppe realisierte ihre Filme immer haarscharf am Konkurs vorbei. Und gegen jene Schweizer Nazi-Sympathisanten, Antisemiten und Kriegsgewinnler, die die Firma scheitern sehen wollten.

Komödiantische Einlagen im Pferdekostüm an Silvester in einem Film.
Legende: «Gilberte de Courgenay» zeichnete 1941 ein romantisiertes Bild der militärischen Grenzbesetzung – etwa mit komödiantischen Einlagen im Pferdekostüm. Cinémathèque suisse

Unterstützung aber gab es vom Schweizer Kinopublikum, das heutige Klassiker wie «Füsilier Wipf» (1938), «Wachtmeister Studer» (1939), «Landammann Stauffacher» oder «Gilberte de Courgenay» (beide 1941) zu einzigartigen Publikumserfolgen machte.

Die Schweiz als Friedensinsel?

Als die Schweizer Behörden 1942 die Grenzen für jüdische Flüchtlinge schlossen, reagierten Wechsler und seine Leute darauf mit Spielfilmen, die die humanitäre Tradition der Eidgenossenschaft in den Mittelpunkt stellten.

Es waren dies das während des Krieges gedrehte und 1946 mit einem Oscar prämierte Drama «Marie-Louise» sowie Lindtbergs eindringlicher Flüchtlingsfilm «Die letzte Chance» (1945). Schliesslich klang auch in dem nach dem Krieg zusammen mit Hollywood produzierten Oscar-Film «The Search» («Die Gezeichneten», 1948) das Schweizer Selbstbild als untadelige Friedensinsel weiter mit.

Transport von Filmrollen vor einem Swissair-Flugzeug 1945.
Legende: Lazar Wechslers Praesens-Film begann mit Hollywood zu liebäugeln: Transport der Filmrollen für den Flüchtlingsfilm «Die letzte Chance» (1945), der in den USA von Metro-Goldwyn-Mayer vertrieben wurde. Cinémathèque suisse

Als die siegreiche Anti-Hitler-Koalition (USA, GB und Sowjetunion) zerbrach, wurde in der Schweiz der Antikommunismus quasi zur Staatsdoktrin erhoben. Die geistige Landesverteidigung, die ursprünglich einmal gegen Faschismus und Kommunismus gestanden hatte, wurde allein gegen den Kommunismus gewendet. So geriet Praesens-Film mit ihrem humanistisch-aufgeklärten, weltbürgerlichen Programm während des Kalten Krieges in die Defensive.

Grosserfolge mit «Heidi»-Filmen

Erschwert wurde die zwingende Neupositionierung durch Lazar Wechslers starrsinniges Festhalten an der Produktion von Schweizer Filmen für den internationalen Markt. Gleichwohl gelangen ihm zwei letzte, grosse internationale Erfolge: 1952 mit «Heidi» sowie 1955 mit dem Nachfolger «Heidi und Peter».

Dabei vermied «Heidi»-Regisseur Luigi Comencini im Fahrwasser des damals populären Heimatfilmkitsches zu segeln. Er rettete damit etwas von jenem humanistischen Geist früherer Praesens-Filme in die zweite Jahrhunderthälfte.

Praesens-Filme auf Play SRF

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Anlässlich des 100-jährigen Bestehens von Praesens-Film sind auf Play SRF verschiedene restaurierte Schweizer Filmklassiker zu sehen:

  • « Schneewittchen und die sieben Gaukler » (Regie: Kurt Hoffmann, D/CH, 1962). Ab dem 13. Januar.
  • «Die letzte Chance» (Regie: Leopold Lindtberg, CH 1945). Ab dem 20. Januar.
  • «Füsilier Wipf» ( Regie: Hermann Haller, CH 1938). Ab dem 27. Januar.
  • «Gilberte de Courgenay» (Regie: Franz Schnyder, CH 1941). Ab dem 3. Februar.

Doch der Strukturwechsel in der Medienbranche, befeuert durch das Aufkommen des Fernsehens, brachte Wechslers Firma erneut auf Schlingerkurs. Dies auch deshalb, weil sich nach den beiden «Heidi»-Filmen keine aussichtsreichen, international verwertbare Schweizer Stoffe mehr anzubieten schienen.

Dürrenmatt sorgte für den letzten Klassiker

Den Ausweg weisen sollte die Kooperation einerseits mit Schweizer, andererseits westdeutschen Produktionsgesellschaften. Resultat waren Dialektfilmerfolge wie Franz Schnyders «Uli der Pächter» (1955) oder Kurt Frühs «Hinter den sieben Gleisen» (1959).

Westdeutschen Produzenten bot Wechsler die Investition in Aufklärungsfilme an, ein Genre, das ihm bereits 1930 Glück gebracht hatte. Praesens-Film war damals mit dem von Sergej Eisenstein mitverantworteten halbdokumentarischen Abtreibungsfilm «Frauennot – Frauenglück» ein erster kapitaler internationaler Kinohit gelungen.

Um die Sache aufzupfeffern, engagierte Wechlser 1958 Friedrich Dürrenmatt, der ihm das Drehbuch zu einem Pädophilie-Warnfilm schrieb. Dieses wurde unter dem Titel «Es geschah am hellichten Tage» verfilmt. Der Thriller, der im deutschsprachigen Raum für einiges Aufsehen sorgte, sollte die letzte Praesens-Produktion bleiben, die später Klassiker-Status erlangte.

Streit um Fördermittel

Für Aufsehen sorgten danach vor allem noch Wechslers wütende Konfrontation mit der jungen Schweizer Filmgeneration. Vor allem im Rahmen der damals initiierten Solothurner Filmtage kochten die Emotionen hoch.

Ein zentraler Konfliktpunkt war das seit kurzem verteilte staatliche Filmförderungsgeld, das zum Leidwesen Wechslers nicht an die Produktionshäuser, sondern zweckgebunden an einzelne Projekte vergeben wurden. Das empfand er als Zumutung, schliesslich wüssten private Produzenten besser als praxisferne Beamte, was das Publikum sehen will.

Wiedergeburt dank grossem Filmschatz

Als Lazar Wechsler 1981 starb, hatte Praesens-Film die Produktion von Filmen längst aufgegeben. Das Unternehmen aber überlebte dank der beiden im globalen Filmmarkt gut vernetzten Brüder Hellstern, die das heruntergewirtschaftete Produktionshaus übernahmen, sanierten und im Medienmarkt neu positionierten.

Ausstellungshinweis

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«Close-up. Eine Schweizer Filmgeschichte» , 12. Januar bis 21. April, Landesmuseum Zürich.

Umgebaut zu einer Art Archiv des alten Schweizer Filmes vertrieb Praesens-Film ihren Schatz in den vergangenen 40 Jahren zuerst weiter im Kino, dann im Fernsehen, auf VHS, DVD und schliesslich für diverse Streaming-Plattformen.

Die Firma, die die Gegenwart in ihrem Namen trägt, sorgt so, unterstützt von der Cinémathèque Suisse, Memoriav und dem Schweizer Radio und Fernsehen SRF, mit liebevoll restaurierten Filmkopien dafür, dass auch in Zukunft das Fenster zur Vergangenheit des Schweizer Filmes geöffnet bleibt.

Radio SRF 2 Kultur, Kultur-Aktualität, 12.1.2024, 7:06 Uhr

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