Vor fünf Jahren brachte Greta Thunberg die «Fridays for Future»-Bewegung ins Rollen. Seither sind auch radikalere Formen von Aktivismus entstanden. Auf diese setzt auch die Gruppe «Renovate Switzerland», die unter anderem an Ostern mit einer Klebeaktion vor dem Gotthard-Tunnel für Aufsehen und Unmut sorgte.
Der Kampf von «Renovate Switzerland» hat diesmal eine grosse Bühne bekommen, fernab der Autobahn. Eine Aktivistin und ein Aktivist der Gruppe stürmen eine Preisverleihung auf der Piazza Grande in Locarno, wo das alljährliche Filmfestival Gäste aus der ganzen Welt anlockt. Fernsehkameras verfolgen live ihre Statements. «Wir sind hier, weil wir wissen, was die Klimakatastrophe für uns und für Sie bedeutet. Und das ist verdammt beängstigend», sagt Robin Jolissaint ins Mikrofon.
Die Beteiligten – sonst mit viel Hass und Wut konfrontiert – dürfen sprechen. Friedlich verlassen Cécile Bessire und Robin Jolissaint die Bühne. Der oscarprämierte Naturfilm «Die Reise der Pinguine» des Regisseurs Luc Jacquet beginnt wie geplant.
Diesmal gibt es keine Verkehrsblockaden, keine entnervten Autofahrer. Stattdessen sind herausgeputzte Filmgäste von einer Störaktion betroffen. Warum das?
Einweisung am Wohnzimmertisch
«Wir wollen etwas Neues ausprobieren, ein grosses Publikum erreichen, inspirieren – und natürlich brauchen wir mehr Spenden», sagt Jolissaint und blickt auf seine digitalen Notizen. Zur Aktionseinweisung haben sich sechs Aktivistinnen und Aktivisten in einem geräumigen Wohnhaus im südlichen Tessin versammelt. Es gehört dem Vater einer Aktivistin.
Zwischen einem Tetrapak Sojamilch und dünnen Laptops breitet Cécile Bessire eine Skizze aus. Sie deutet auf zwei Kreuze. «Hier werden Robin und ich warten.» Am Tag zuvor haben sie die Piazza Grande gründlich studiert, die Position der Security ausgemacht und sich mögliche Schlupflöcher zur Bühne gemerkt. Ein weiteres Kreuz steht für Lilith Mattei, sie verteilt Flyer.
Für Mattei ist es die erste Aktion. Sie stellt viele Fragen: «Was, wenn mich jemand vom Festival anspricht? Was ist, wenn jemand aggressiv wird?» Die Antwort lautet fast immer: Zuhören, freundlich sein, nicht belehren. Mattei sagt: «Ich bin ein bisschen gestresst.»
Training auf der Terrasse
Alle Anwesenden haben bereits an Aktionstrainings teilgenommen. Dort lernen sie, wie man am geschicktesten Kleber verteilt, deeskalierend auftritt oder sich gegenüber der Polizei verhält.
Doch die Situation beim Filmfestival ist eine neue. Werden sie gestoppt, ausgebuht oder verhaftet? Sie üben auf der Terrasse. Neben einem üppigen Rosenstock und einer Palme entledigen sich Bessire und Jolissaint ihrer Pullover. Darunter: ein weisses T-Shirt mit dickem «Act now!»-Aufdruck. Bessire zubbelt ein violettes Banner aus ihren Jeans, sie rennen los, das Banner landet falsch herum auf den Steinen.
Mit dem Körper einstehen
Bessire wuchs auf dem Land auf. Um das Klima sorgt sie sich schon lange. Sie unterschrieb Petitionen, verpasste keine politische Abstimmung. Doch es frustrierte sie.
Ein Vortrag der Protestgruppe «Extinction Rebellion» im Jahr 2019 überzeugte sie: «Beim zivilen Widerstand kann ich mit meinem Körper wirklich alles geben.» Aber das reichte ihr nicht, sie suchte mehr: mehr Provokation, mehr Ausdauer. Im März 2022 gründete Bessire gemeinsam mit drei anderen «Renovate Switzerland».
Diese Existenzangst, nicht unbedingt um sich selbst, sondern eher um die eigene Gattung, treibt die Leute an.
Die Gruppe ist wie «Die letzte Generation» in Deutschland oder «Just Stop Oil» in Grossbritannien Teil des internationalen A22-Netzwerks. «Die Strategie des A22-Netzwerks ist weniger, Mehrheiten zu gewinnen, sondern die Verdrängung des Klimawandels zu bekämpfen und die Leute zu zwingen, sich zu positionieren», erklärt der Basler Soziologe und Protestforscher Simon Schaupp.
Verzweiflung als Antrieb
Bessire kündigte ihren Job als Logopädin. «Ich brachte Kindern bei, wie man Tiere benennt. Dabei haben die Kinder vielleicht gar keine Zukunft mehr», beschreibt sie die empfundene Sinnlosigkeit. Ihr damaliger Freund verstand ihren Handlungsdrang nicht. Die Beziehung zerbrach.
Die 29-Jährige verabschiedete sich von eigenen Berufs- und Reiseplänen, doch ein Wunsch bleibt: Sie möchte Mutter werden. Keine Strafanzeige und keine Beschimpfung auf der Strasse machen ihr so sehr Angst, wie der Gedanke, aufgrund eines unbewohnbaren Planeten keine Kinder bekommen zu können.
Verzweiflung stellt auch Schaupp in seiner Forschung zu Schweizer Klimabewegungen als treibende Motivation von zivilem Ungehorsam fest. «Es ist einerseits ein Katastrophenbewusstsein und andererseits eine starke Desillusionierung über staatliche Politik.»
Heute ist Bessire Vollzeitaktivistin. Sie ist 25% angestellt, den Rest arbeitet sie ehrenamtlich. Dafür wird sie mit ein bisschen mehr als 1000 Franken im Monat bezahlt.
Geld für Flyers, Trainings und Reisespesen erhält die Gruppe vom Verein Association Mobilisation Climat. Andere Kosten wie Bussen für Verkehrsbehinderungen zahlen die Aktivistinnen und Aktivisten selbst.
Widerstand aus Angst
Als Jolissaint im April 2022 erfuhr, dass laut Berechnungen des IPCC-Berichts – ein UNO-Ausschuss für Klimaänderungen – «uns nur noch drei Jahre bleiben», wollte er etwas Sinnvolles tun. Es macht ihm Angst: nur drei Jahre Zeit, die globalen Emissionen drastisch zu senken, damit die Temperaturen nicht um mehr als 1.5 Grad Celsius steigen.
Schaupp spricht vom Schockmoment, der entsteht, wenn man sich am wissenschaftlichen Kenntnisstand orientiert und zum ersten Mal die Tragweite durchschaut. «Diese Existenzangst, nicht unbedingt um sich selbst, sondern eher um die eigene Gattung, treibt die Leute an.»
Jolissaint entschied sich für den zivilen Widerstand und ein potenzielles Strafregister. «Ich weiss, dass ich mit Vorstrafen wahrscheinlich nicht das tun kann, was ich möchte. Ich weiss, dass meine Familie vielleicht enttäuscht sein wird.»
Weiss, gebildet und privilegiert
Jolissaint ist Doktorand der Soziologie und Mitglied der SP. Er sagt Sätze wie: «In einer ernsthaften Diskussion streite ich gerne und versuche, die Wahrheit und echte Argumente zu finden.» Nachdem die Polizei in Locarno Jolissaint schnell wieder frei lässt, trifft er auf den Regisseur und Umweltschützer Luc Jacquet. Sie diskutieren eine Weile.
Der 30-Jährige kann das gut. Nicht alle Menschen, die sich für das Klima einsetzen wollen, können ihre Sorgen mit wissenschaftlichen Argumenten begründen. Doch genau das ist die Erklärungsgrundlage der gesamten Klimabewegung.
«Ein Resultat des Mittelstandsphänomens in der Klimabewegung ist die starke Wissenschaftsorientierung», sagt Protestforscher Schaupp. Gleichzeitig sei die mangelnde Diversität in Bezug auf ethnische und soziale Herkunft ein Riesenthema.
Oft wird der Vorwurf laut, die Klimabewegung sei eine Bewegung der Privilegierten. Ein Widerspruch, den sie eisern, beinahe stur, aushalten. «Ich möchte meine Privilegien nutzen, um es auch für Leute zu tun, die es nicht tun können», sagt Bessire. Und Jolissaint: «Unser Ziel ist es, ein Prozent der Bevölkerung zu mobilisieren. Ich würde mich also nicht zu sehr auf Menschen konzentrieren, die bereits andere Schwierigkeiten im Leben haben.»
Keine Aktion ohne Emotion
Zurück nach Locarno. Menschen in Abendrobe suchen nach freien Plätzen in den für Touristen hergerichteten Restaurants. Bessire hat ihre Haare hochgesteckt und Wimperntusche aufgetragen. Jolissaint trägt kurze Hosen, lange Socken und schwarz glänzende Lederschuhe.
Über das Gefühl während einer Aktion sagt Bessire: «Einerseits hasse ich es, es zerreisst mich innerlich. Andererseits weiss ich, dass ich es tun muss. Dann fühle ich mich gut und bin ganz ruhig.»
«Es ist sehr emotional, dazusitzen und zu wissen, dass man vielleicht nichts anderes tun kann», sagt Jolissaint. «Diese Position ist so lächerlich und doch ist es das Stärkste, was ich tun kann.»
Klimaschutz ja, Provokation nein
Laut dem SRG-Wahlbarometer sieht zwar 40 Prozent der Schweizer Bevölkerung den Klimawandel als wichtigste politische Herausforderung, gleichzeitig aber nehmen 51 Prozent der Befragten die sogenannten Klimakleber als grösstes Ärgernis wahr.
Oft heisst es: Die Aktionen führen weg vom eigentlichen Thema Klimaschutz. In der Folge kommt es zur Abwehr. Klimaschutz als grüne Ideologie, die etwas aufzwingen will.
Schaupp stellt in seinen Befragungen zwar eine vermehrte Kapitalismuskritik der Klimabewegung fest, aber: «Es gibt im Vergleich zu radikaleren Bewegungen einen erstaunlichen Pragmatismus in Bezug auf Protestformen und theoretische Einstellungen.»
Konkret fordert Renovate Switzerland, die Regierung solle den Klimanotstand ausrufen und es brauche einen sofortigen Notfallplan zur thermischen Sanierung aller Gebäude bis 2030. Von Veganismus und Flugverbot ist keine Rede.
Streit um Doppelmoral
Der Fokus auf politische Institutionen und ökonomische Strukturen liesse sich als genereller Wandel in der Klimabewegung beobachten, meint Schaupp. «Die Betonung des individuellen Verzichts wird der Klimabewegung eher von aussen zugeschrieben.»
Im Juni dieses Jahres landete ein Bild des Klimaktivisten Max Vögtli im Netz, dass ihn am Pariser Flughafen auf dem Weg nach Mexiko zeigte. Eine Diskussion um Doppelmoral erfasste in kürzester Zeit die gesamte Schweiz.
Bessire als Mediensprecherin beantwortete Fragen anstelle seiner: «Es war frustrierend, weil ich selbst nicht fliege. Aber wir haben unterschiedliche Meinungen und können trotzdem gemeinsam etwas tun.»
Eine ungestörte Störaktion
Die Störaktion auf der Piazza Grande werten die Aktivistinnen und Aktivisten als Erfolg. Rund 8000 Menschen hören hin. Der künstlerische Leiter des Filmfestivals erklärt: «Wir wollen dasselbe. Tut ihnen nicht weh und lasst sie sprechen!» Der Festivalpräsident sagt später im Fernsehen: «Man braucht Mut, um seine Meinung zu vertreten.»
Die Gruppe wirkt beinahe überrascht, beschwingt laufen sie durch die Strassen. Ein Jugendlicher fragt: «Warum habt ihr ausgerechnet diesen Naturfilm gewählt, der hatte doch genau die richtige Aussage?»
In einem Publikum mit umweltinteressierten Menschen spreche man eher über die Inhalte als die Methode, sagt Jolissaint. «Unser wichtigstes Ziel ist, die Bewegung weiter auszubauen.»
«Sie gehen davon aus, dass den Leuten klar werden müsste, dass die gegenwärtige Politik in die Katastrophe führt, wenn die Leute über die Klimathematik nachdenken», sagt Schaupp. Er selbst bleibt skeptisch. «Ich bin mir unsicher, ob sozialer Wandel wirklich so funktioniert.»
Tags darauf treffen sich alle beim Frühstück. Eingeweichte Chia-Samen und gebratener Tofu stehen auf dem Tisch. Nach ein paar Stunden Schlaf hat sich das Netz bereits mit Medienberichten gefüllt. Im Minutentakt kommen neue herein. Ziel erreicht.