Zum Inhalt springen

Segregation in Ostdeutschland Wie die AfD von der sozialen Spaltung im Osten profitiert

Plattenbausiedlungen sind aus dem Osten nicht wegzudenken. Nun werden sie oft als Wohnraum für Zuwanderer genutzt. Der Erfurter Soziologe Marcel Helbig ist Experte für soziale Ungleichheit. Im Interview erklärt er, warum dieses sozialstrukturelle Ungleichgewicht die politische Mitte schwächt – und Raum für den aktuellen Erfolg von Parteien wie der AfD schafft.

Marcel Helbig

Soziologieprofessor Universität Erfurt

Personen-Box aufklappen Personen-Box zuklappen

Marcel Helbig ist Professor für Soziologie an der Universität Erfurt. Als Lehrbeauftragter an der Professur für Bildung und soziale Ungleichheit beschäftigt er sich intensiv mit den Dimensionen sozialer Segregation und deren Folgen.

SRF News: Warum ist der Osten Deutschlands gespalten?

Marcel Helbig: Die Ungleichheit im Osten Deutschlands zeigt sich geografisch, demografisch und sozial überdeutlich. Zum einen bestehen starke Unterschiede zwischen Land und Stadt: Akademiker konzentrieren sich in Universitätsstädten wie Erfurt, Weimar und Jena, während ländliche Regionen von Bevölkerungsrückgang und Überalterung geprägt sind.

Zum anderen verstärken sich soziale und ethnische Unterschiede innerhalb der Städte. Um die Jahrtausendwende standen in den grossen Plattenbaugebieten vor allem ärmere Menschen, viele Wohnungen standen leer. Aufgrund niedriger Mieten wurden verstärkt Migranten dort untergebracht, was das sozialstrukturelle Ungleichgewicht weiter verstärkte.

Die Vorurteile gegenüber den Plattenbauten sind in den Köpfen vieler Menschen fest verankert.

Welche Folge hat diese Spaltung für die Menschen?

Die Vorurteile gegenüber den Plattenbauten sind in den Köpfen vieler Menschen fest verankert. Aus den USA kennen wir die Bilder der Ghettos, aus Westdeutschland die Vorstellung der stark migrantisch geprägten Brennpunktviertel. Doch davon sind die Plattenbauten in Ostdeutschland weit entfernt. Den Menschen aus anderen Stadtteilen ist das aber nicht bewusst, weil sie selten herkommen. Dadurch entsteht eine Diskrepanz zwischen den Regionen, die Gemeinschaft löst sich auf.

Die Leute sprechen also nicht mehr miteinander. Zeigt sich das auch im Wahlverhalten?

Tatsächlich gibt es in den ländlichen Regionen deutlich mehr AfD-Wählerinnen und -Wähler als in den Städten. Aber auch in den besser situierten Städten wählten teilweise bis zu 20 Prozent die AfD. Dies könnte daran liegen, dass kaum Kontakt zu Migranten besteht und folglich nur wenig Verständnis für deren Situation aufgebracht werden kann.

Es herrscht derzeit eine grosse Unzufriedenheit mit demografischen und sozialen Umständen, die die Politik kaum beeinflussen kann.

Innerhalb der Städte hat die AfD vor allem in den ehemals linken Hochburgen – den Plattenbausiedlungen – massiv zugelegt und kommt mittlerweile auf gut 40 Prozent. Der starke Rechtsruck in den Plattenbau-Quartieren könnte daherkommen, dass die dort Ansässigen überfordert sind im Umgang und der Integration neuer Migranten

Spielt also die Soziodemografie dieser Gebiete der AfD in die Hände?

Gewissermassen schon. Es herrscht derzeit eine grosse Unzufriedenheit mit demografischen und sozialen Umständen, die die Politik kaum beeinflussen kann. Zum einen hat der demografische Wandel den Osten stark getroffen, vor allem die ländlichen Gebiete sind stark überaltert. Andererseits ist der soziale Graben innerhalb der Städte gross. Auf beide Probleme hat die Politik kaum Antworten, was die politische Mitte stark geschwächt hat. Diese Lücke füllt nun die AfD.

Wie lange die Brandmauern noch halten, ist sowohl in Deutschland als auch in Österreich fraglicher denn je.

Was bedeutet der Erfolg der AfD für Thüringen und für Deutschland?

Derzeit ist nicht absehbar, dass die AfD Regierungsverantwortung übernehmen wird. Aber in Thüringen müssen demnächst neue Richterposten besetzt werden und die AfD ist stark genug, um einzelne Besetzungen zu verhindern.

Ohne Zustimmung der AfD ist die Justiz also praktisch handlungsunfähig. Das ist ein Beispiel dafür, wie die AfD schrittweise demokratische Institutionen beeinflussen kann. Und wie lange die Brandmauern noch halten, ist sowohl in Deutschland als auch in Österreich fraglicher denn je.

Das Gespräch führte Barbara Lüthi.

Wahlen in Deutschland 2025

Box aufklappen Box zuklappen
Legende: KEYSTONE/DPA/Anna Ross

Deutschland wählt am 23. Februar 2025 einen neuen Bundestag. Anschliessend wird eine neue Regierung ernannt. Alle News und Hintergründe zu den Wahlen in Deutschland finden Sie hier.

Club, 18.2.2025, 22:25 Uhr ; 

Meistgelesene Artikel