Lucas und Noam lernen sich vor drei Jahren in Jerusalem kennen. Im Oktober 2023 heiraten sie in der Schweiz: der Termin steht schon lange fest. Nur wenige Tage, bevor der Israeli Noam zur Hochzeit anreist: der brutale Angriff der Hamas auf den Süden Israels und der Beginn des Gazakriegs. Die furchtbaren Ereignisse überschatten die Beziehung.
Der Schweizer Lucas hat lange in den palästinensischen Gebieten und Libanon gearbeitet. Israels Kriegsführung im Gazastreifen mit Zehntausenden von Opfern entsetzt ihn. Noam hingegen sieht die Existenz Israels bedroht: Eine Alternative zum Krieg gegen die Hamas sieht er nicht. Noam ist drauf und dran, sich in Israel zum Kriegsdienst zu melden. Lucas überlegt sich, im Gazastreifen humanitäre Hilfe zu leisten. Die beiden streiten sich, machen einander schwere Vorwürfe.
Noams Standpunkt: Lucas fokussiere nur auf die Opferzahlen, und nicht auf den Grund für die hohe Zahl von zivilen Opfern. Israel töte nicht mit Absicht so viele Zivilpersonen, daran sei die Hamas schuld: Sie verstecke sich in der Zivilbevölkerung und benutze diese als menschliche Schutzschilde.
Lucas Standpunkt: Zivilpersonen töten, sei ein Kriegsverbrechen. Es gebe nicht gute oder schlechte Kriegsverbrechen, sondern einfach nur Kriegsverbrechen. Die zu hohe Zahl von zivilen Opfern sei eine Tatsache, für die es keine Rechtfertigung gebe.
Noams Standpunkt: Der Hamas sei es egal, wie viele Palästinenserinnen und Palästinenser sterben. Ihr gehe es nicht um deren Rechte, sondern um eine radikal-islamistische Ideologie. Dazu gehöre die Vernichtung Israels. Wenn sich Israel mit ganzer Kraft gegen seine Vernichtung wehre, beklage der Westen die hohen Opferzahlen als unmoralisch und spiele damit der Hamas in die Hände. Die Hamas habe am 7. Oktober Kinder vor ihren Eltern getötet, wahllos gemordet und gefoltert – trotzdem sehe die Welt Israel als Kriegsverbrecher.
Lucas Standpunkt: Mit Gewalt sei dieser Konflikt nicht zu lösen – im Gegenteil. Die allermeisten Menschen in der arabischen Welt seien keine Fanatiker. Israels Vernichtungskrieg im Gazastreifen erzeuge jedoch Unverständnis und Hass. Am Ende des Blutvergiessens werde keine kriegerische, sondern eine diplomatische Lösung stehen.
Soziale Medien – verschiedene Bubbles
Eine Zweistaatenlösung hält Noam für realitätsfern. Eine dauerhafte Friedenslösung kann er sich nicht vorstellen. Lucas hingegen ist überzeugt: Ein Frieden sei möglich.
Ihren eigenen Streit beizulegen, ist nicht einfach. «Zusammen Nachrichten schauen? Das geht nicht!» sagen die beiden unisono. Beide versuchen, Nachrichten zu meiden. Über soziale Medien bekommen sie trotzdem vieles mit, aus völlig unterschiedlicher Perspektive.
Dass sie sich auf den sozialen Medien in unterschiedlichen Bubbles bewegen, ist den beiden bewusst. Ebenso die Tatsache, dass sie in Bezug auf den Gazakrieg wohl nie einer Meinung sein werden.
Trotzdem hätten sie im Streit miteinander viel gelernt. «Wir haben gelernt, mit unseren unterschiedlichen Meinungen zu leben, und wir haben uns mit der Identität, der Herkunft des anderen auseinandergesetzt», so Noam. Und Lucas ergänzt: «Wir kennen die Meinungen des anderen. Jetzt müssen wir auch nicht mehr darüber diskutieren, sondern können weitermachen, vorwärts schauen.»