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Ethnische Säuberung in Darfur Vertrieben, vergewaltigt, getötet oder vergessen

Der Krieg in Sudan hat die grösste humanitäre Katastrophe der Welt ausgelöst. Zwei Millionen Menschen sind geflüchtet, die meisten von ihnen ins Nachbarland Tschad. Fast alle gehören zur afrikanischen Ethnie der Masalit und werden von den arabischen Milizen gezielt verfolgt. Drei Geschichten.

42 Grad heiss, ein Wind, der den Sand in Augen und Nase treibt. Eine Halbwüste an der Grenze zur westsudanesischen Provinz Darfur, ausserhalb der kleinen tschadischen Grenzstadt Adré. Strohhütten, so weit das Auge reicht.

In diesen Hütten leben jene, die mehrheitlich letztes Jahr vor zahlreichen Massakern geflohen sind. Neuankömmlinge, zwischen 600 und 1000 pro Tag, basteln aus zusammengeknüpften Stofffetzen einen löchrigen Unterstand. Insgesamt 150'000 Personen leben hier.

Anwälte dokumentieren ethnische Säuberungen

Die meisten Menschen sind verhüllt und traditionell gekleidet. Ausser die beiden Anwälte. Mit ihren gebügelten Hemden und Hosen mit akkurater Falte erinnern sie daran, dass die Menschen ein Leben vor der Flucht hatten. Viele stammen aus El Geneina, der grössten Stadt in West-Darfur. Der ältere der beiden Anwälte führte eine Kanzlei mit 20 Angestellten. Bereits in El Geneina begannen sie die Gräueltaten der arabischen Milizen Rapid Support Forces zu dokumentieren.

Die Männer, beide Angehörige der afrikanischen Ethnie der Masalit, mussten schliesslich selbst fliehen. «Es wurde klar, dass die Milizen es auf uns abgesehen haben, denn sie wollen die intellektuelle Elite auslöschen. Als im letzten Juni Namenslisten von Masalit kursierten und ganz gezielt Häuser abgebrannt und Menschen getötet worden sind, sind auch wir in den Tschad geflohen», sagt der 31-jährige Abdulmoneim Hamad. Er und sein Kollege sitzen auf der Matte in einer der Strohhütten. Vor sich bereiten sie diverse Papiere aus. Abdulmonein Hamad benutzt seinen Rucksack als Schreibtisch.

Zwei Männer schreiben auf Papier in einer Hütte.
Legende: Die beiden Anwälte nehmen die Aussage eines Zeugen auf. Cristina Karrer / SRF

Der ältere Mann gegenüber erzählt, wie die arabischen Milizen ihn aus seinem Haus schleppten und unter einem fadenscheinigen Vorwand ins Gefängnis steckten. Die Anwälte sind hoch konzentriert, fragen nach bei Ungenauigkeiten und schreiben alles mit rasender Geschwindigkeit mit.

Unterernährte Kinder, kaum Wasser

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Das Flüchtlingslager bei Adré ist kein offizielles Lager. Die Lager des UNO-Hilfswerks für Flüchtlinge (UNHCR) liegen weiter im Landesinnern. In Adré können sich jedoch alle registrieren, um Lebensmittelrationen zu erhalten.

Bei der hygienischen und medizinischen Infrastruktur ist die NGO «Ärzte ohne Grenzen» federführend. Sie hat zahlreiche Toiletten im ganzen Lager gebaut. Doch noch immer müssen sich 500 Menschen eine Latrine teilen. Die NGO bohrte auch mehrere Wasserlöcher und schuf Wasserstellen. Pro Tag gibt es allerdings nur zehn Liter für eine Person statt die Mindestmenge von 20 Litern.

Die Zahl der unterernährten Kinder steigt dramatisch, denn immer mehr Menschen fliehen aus Darfur in den Tschad, weil ihre Felder zerstört werden und sie nichts mehr zu essen haben. Die NGO «Ärzte ohne Grenzen» hat im Spital von Adré ein spezielles Zelt für solche Kinder und ihre Mütter eingerichtet.

Die Kinder werden dort mithilfe spezieller Nasensonden ernährt. In der für die Geflüchteten im Lager errichteten Klinik gibt es ebenfalls Angebote für unterernährte Kinder.  Allein in Darfur, so schätzen internationale Hilfsorganisationen, sind 700’000 Kinder unterernährt.

Das Sammeln von Zeugenaussagen ist für sie lebensgefährlich. Die arabischen Milizen kennen ihre Namen und haben ihre Schergen auch im Tschad. Das schreckt die zwei Anwälte jedoch nicht ab. «Die Welt muss wissen, was in Darfur geschieht. Der Genozid von 2003 ist nicht abgeschlossen. Er ist heute nicht mehr flächendeckend wie damals, doch geht er weiter. Wir hoffen, dass unsere Dokumente helfen können, dass die Täter eines Tages vor dem internationalen Gerichtshof in Den Haag zur Verantwortung gezogen werden.»

6000 Tote, 18'000 Verletzte, über 300 vergewaltigte Frauen

Die beiden Anwälte erfassen jeden Vorfall akribisch: Geschlecht, Ethnie, Datum, Name, alles findet sich auf ihrer Liste wieder, die mittlerweile einen beachtlichen Papierstapel ausmacht. Ihre Bilanz: 6000 Tote, 18'000 Verletzte und über 300 vergewaltigte Frauen. Sie haben weder einen Computer, noch Zugang zu einer Kopiermaschine. Um sicherzugehen, dass die kostbaren Dokumente nicht gestohlen werden, legen sie diese in der Nacht unter das Kopfkissen.

Mehrere aufgeschlagene Karopapiere mit handschriftlichen Notizen auf einem roten Teppich.
Legende: Die Listen der Anwälte werden handschriftlich geführt. Cristina Karrer / SRF

Auf ihre Informationen stützt sich unter anderem die UNO-Organisation Human Rights Watch. Sie veröffentlichte soeben einen Bericht über die ethnischen Säuberungen in Darfur . Mindestens 10'000 Menschen seien im letzten Jahr aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit getötet worden, heisst es darin.

Die Geschäftsfrau aus El Geneina – von drei Männern vergewaltigt

Sawsan Abdalla Osman sitzt in ihrer Hütte und geht gedankenversunken die Fotos auf ihrem Handy durch. Sie taucht für einige Minuten in ihr Leben ein, das bis Juni 2023 perfekt war – abgesehen von den üblichen Höhen und Tiefen, die ein jedes Leben an sich hat. Sie führte in El Geneina eine Bäckerei, sie verzierte Frauen an Hochzeiten mit Henna und vertrieb selbst gemischte Parfums. Dass sie als Masalit den arabischen Milizen ein Dorn im Auge war, gehörte zu ihrem Alltag.

Person hält Smartphone mit Foto einer Gruppe von fünf Personen.
Legende: Sawsan Abdalla Osman hatte auch einen Salon in El Geneina. Cristina Karrer / SRF

Doch vor einem Jahr änderte sich alles. 50 Männer tauchten in ihrer Nachbarschaft auf, riefen alle Bewohner und Bewohnerinnen zusammen und zeichneten eine weisse Linie auf den Asphalt. Alle Masalit wurden auf die eine Seite der Linie abkommandiert. «Sie haben dann alle Häuser der Masalit abgebrannt, eines nach dem anderen. Mein Haus wurde an diesem Tag auch zerstört.»

Frau in gelbem Gewand sitzt auf einem Bett in einem strohgedeckten Raum.
Legende: Die 38-jährige Geschäftsfrau wurde von drei Männern vergewaltigt. Cristina Karrer / SRF

Zwei Tage später habe sie sich in ihr kaputtes Haus geschlichen, um zu retten, was nicht vom Feuer verschlungen worden ist. Einige Männer der arabischen Milizen hätten das bemerkt und sie in ihrem Haus auf den Boden geworfen. «Ich habe mich gewehrt, so gut ich konnte, doch ich hatte keine Chance. Sie diskutierten vor mir, ob sie mich gleich töten sollten. Schliesslich haben sie mich von elf Uhr abends bis vier Uhr morgens vergewaltigt. Es waren drei Männer.»

Vergewaltigung als Instrument zur Unterdrückung

Die 38-Jährige stockt, ihre Augen füllen sich mit Tränen. Resolut wischt sie diese ab. Für sie steht ausser Frage, dass sie und zahlreiche andere Frauen vergewaltigt werden, um die Männer der Masalit zu schwächen. Vergewaltigung sei ein Kriegs- und Unterdrückungsinstrument. Doch sie lasse sich weder zerstören noch unterdrücken.

Da sie von ihrem Mann – im Unterschied zu vielen Frauen – unterstützt wird sowie von ihren Nachbarinnen, hat sie genügend Energie, um im Flüchtlingslager anderen Frauen zu helfen. Sie ist in einer sudanesischen Frauengruppe aktiv, wo missbrauchte Frauen Zugang zu psychologischer Beratung haben.

Frau in gelbem Gewand sitzt auf einer Decke und lacht, umgeben von Küchenutensilien und Lebensmitteln.
Legende: Sawsan Abdalla Osman führte eine Bäckerei in El Geneina und backt nun im Lager. Cristina Karrer / SRF

Sawsan Abdalla Osman lässt sich keine Opferrolle aufdrücken. Abends, wenn die Temperaturen auf erträgliche 35 Grad fallen, backt sie mit ihrer Nachbarin die für El Geneina typischen Biskuits in einem uralten Blechofen, den sie an eine Gasflasche anschliesst. «Die Biskuits machen mich glücklich. Sie erinnern mich an die guten Zeiten in Sudan.»

Traum eines Medizinstudiums in Europa

90 Prozent der Menschen im Flüchtlingslager Adré sind Frauen und Kinder. Die meisten von ihnen haben ihre Männer im Krieg verloren. Aber gibt es auch einige junge Männer, die in El Geneina studieren wollten und von den arabischen Milizen Rapid Support Forces angegriffen worden sind.

Moataz Mohammed Osman ist einer von ihnen. Er ist Ende letzten Jahres mit seinen fünf Schwestern, vier Brüdern und seinen Eltern nach Adré geflohen. «Ich habe Schlimmes gesehen», betont er, «vor meinen Augen wurden etliche Männer erschossen. Sie lagen auf dem Boden und niemand durfte ihnen helfen. Das war grausam.»

Gruppe von Menschen, die auf buntem Teppich draussen zusammensitzt.
Legende: Moataz Mohammed Osman mit seiner Familie Cristina Karrer / SRF

Nach zwei Monaten in Adré schlug er seiner Familie vor, er wolle versuchen, im benachbarten Libyen oder noch besser in Europa Medizin zu studieren. «Ich war der Beste an der Mittelschule und habe hier im Lager bereits ein Praktikum in einer kleinen Klinik machen können. Ich habe keine Angst vor dieser Reise. Man darf nicht so schnell aufgeben, wenn etwas schwierig ist im Leben.»

Das Gepäck voller Bücher

Auf die Frage, was er auf die geplante Reise mitnehme, bringt Moataz Mohammed Osman einen Stapel Lehrbücher zu Physik, Mathematik, Chemie. Diese seien für ihnen das wichtigste überhaupt. Er habe sie schon aus Darfur gerettet und viele andere Gegenstände wie Fotos und Erinnerungsgegenstände zurückgelassen. «Sie sind meine Zukunft. Ohne sie bin ich verloren», betont er. Dass er für die gesamte Reise nur 500 Franken zur Verfügung hat, noch nicht weiss, wo er in Libyen übernachten wird und wie er je nach Europa gelangen wird, stresst ihn nicht. Mit seinen Büchern fühlt er sich sicher.

Mann sitzt in einer Hütte auf einem Stuhl mit Büchern und Papieren auf dem Boden.
Legende: Moataz Mohammed Osman und seine Bücher für Europa. Cristina Karrer / SRF

Er ist nicht der einzige, der sich Richtung Europa aufmachen wird. Wie viele es genau sind, weiss niemand. Doch eines ist sicher: Der Krieg in Sudan, die ethnischen Säuberungen in Darfur, werden sich früher oder später auch auf Europa auswirken.

10vor10, 29.5.24, 21:50 Uhr

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