Seit 15 Monaten herrscht in Gaza Krieg. Regelmässig berichten wir über Bombardements und nennen neuste Opferzahlen, doch was die Menschen im Krieg erleben, das bleibt abstrakt und unfassbar. Journalistinnen und Journalisten ist es untersagt, den Küstenstreifen zu betreten: Israel hält die Grenzen geschlossen und lässt, sehr selten, einige ausgewählte Medienvertretende einreisen, in Begleitung und unter Aufsicht der israelischen Armee.
Palästinensische Journalistinnen und Journalisten berichten via arabische Kanäle, al-Jazeera und soziale Medien, und auch über die internationalen Nachrichtenagenturen gelangen Informationen zu uns. Es mangelt nicht an Fakten. Sich persönlich ein Bild der Lage vor Ort zu machen, ist derzeit jedoch unmöglich.
Kontakt via WhatsApp
Schon länger wollte ich deshalb mit einer Bewohnerin oder einem Bewohner Gazas sprechen und mir mehr über ihren Alltag erzählen lassen. Über eine Kontaktperson, die in der Region in der humanitären Hilfe arbeitet und auch länger in Gaza tätig war, bin ich auf Maysaa gestossen. Via WhatsApp meldete ich mich bei Maysaa, stellte mich vor und fragte sie, ob sie bereit wäre, mit ihr über ihr Leben im Krieg zu sprechen.
Damit begann ein Austausch, der bis heute andauert. In meiner ersten Nachricht hatte ich Mühe, die richtigen Worte zu finden: Aus der warmen Stube, dem sicheren Dach über dem Kopf, aus einer Situation des Wohlstands und Friedens eine mir unbekannte Frau zu fragen: Wie lebt es sich im Krieg? Das kam mir fast schon zynisch vor.
Netz-Empfang ist nicht selbstverständlich
Doch Maysaa, die fliessend Englisch schreibt und spricht, nahm mir diese Hemmungen sofort. Mit ihrer Offenheit und spürbaren Freude darüber, dass sich überhaupt jemand aus dem fernen Ausland für das Leben in Gaza interessiert. Via WhatsApp begann ich, ihr Fragen zu stellen, die sie jeweils mit Sprachnachrichten beantwortete, wenn sie Zeit dazu hatte – und wenn sie Netz-Empfang hatte, das ist im Gazastreifen keine Selbstverständlichkeit.
Die 38-jährige Maysaa erzählt ruhig und gefasst. Vor dem Krieg lebte sie mit ihrem Mann und den drei Söhnen in Gaza-Stadt. Sie hat Krisen- und Katastrophenmanagement studiert, macht derzeit ihr Doktorat und arbeitet ausserdem als «protection officer», das ist eine Art Sozialarbeit im Konfliktgebiet. «Nach dem Evakuierungsbefehl der israelischen Armee haben wir Gaza-Stadt am 13. Oktober 2023 verlassen», sagt Maysaa. «Wir gingen zuerst nach Khan Yunis in eine Flüchtlingsunterkunft. Seither wurden wir mehrfach vertrieben.»
Eine humanitäre Zone ist al-Mawasi nicht. Jeden Tag gibt es hier Angriffe.
Ihre Fluchtgeschichte ähnelt jener der grossen Mehrheit der Bewohnerinnen und Bewohner Gazas. Laut Schätzungen der UNO sind 90 Prozent von ihnen intern vertrieben worden. Mittlerweile lebt Maysaa mit ihrer Familie und dem Kater Leo in einem Zelt in al-Mawasi, in der sogenannt humanitären Zone.
«Eine humanitäre Zone ist das aber nicht. Jeden Tag gibt es hier Angriffe. Die Israeli greifen Zelte an, ohne Vorwarnung, und töten Dutzende Menschen. Ständig kreisen Drohnen über uns. Es gibt hier keinen sicheren Ort.» Erst kürzlich sei in ihrer Nähe ein Zelt von einem israelischen Helikopter getroffen worden.
Kein normales Familienleben mehr
Tatsächlich sind Drohnen sogar in einigen von Maysaas Sprachnachrichten deutlich zu hören. Auch sonst gibt es viele Nebengeräusche.
Es gibt hier keine Privatsphäre. Die Nachbarn wissen alles über uns.
Das ist Ausdruck davon, dass im Vertriebenenlager al-Mawasi etwa eine Million Menschen auf engstem Raum zusammenleben, Zelt an Zelt. Auch darüber spricht Maysaa: «Es gibt hier keine Privatsphäre. Die Nachbarn hören unsere Gespräche mit und wissen alles über uns.» Ein normales Familienleben sei so unmöglich.
Grosse Sorgen macht sich Maysaa um die Zukunft ihrer drei Söhne. Der älteste, Said, ist 13 Jahre alt. Yazid ist zehn, und der kleinste, Omar, ist erst drei. Said und Yazid verpassten nun bereits das zweite Schuljahr, sagt Maysaa. «Das Erziehungsministerium hat eine Online-Schulinitiative lanciert, aber oft ist die Internetverbindung so schlecht, dass ich die Aufgaben für die Kinder nicht runter- oder hochladen kann.»
Die Versorgungslage
Immer wieder hören und lesen wir, dass nicht genügend Hilfslieferungen nach Gaza gelangen. Maysaa bestätigt, dass es auf den Märkten kaum etwas zu kaufen gebe. So wollte sie etwa zusätzliche Decken besorgen, weil es im Stoffzelt nachts kalt wird. «Doch leider gibt es keine Decken in den Geschäften. Ich habe jetzt die Matratzen am Boden zusammengeschoben. Wir liegen nahe beieinander, so können wir uns wärmen.» Warme Mahlzeiten erhalten sie von einer Suppenküche, die Portionen seien jedoch zu klein für die ganze Familie. «Mein Mann und ich sind auf Diät und essen nicht so viel», meint sie lakonisch.
Leben im Zeltlager in Gaza
Kleine Kinderfreuden, Schokolade oder Kekse, gebe es nicht mehr. Nur schon Eier seien unerschwinglich geworden. Und Hygieneartikel wie Windeln oder Damenbinden kosteten zehnmal mehr als vor dem Krieg. «Für eine Periode muss eine Frau für etwa 70 Franken Binden kaufen. Kannst du dir vorstellen, wie das das Budget einer Familie belastet?»
Kritik an der Hamas
In ihren Sprachnachrichten spricht Maysaa auch über die politisch-militärische Führung im Gazastreifen. Die Hamas-Leute kümmerten sich nicht um das Wohl der Menschen, sagt sie, «sonst hätten sie den Angriff auf Israel am 7. Oktober 2023 nie lanciert.» Einige Leute hätten sich gefreut darüber, dass Israel Hamas-Chef Yahya Sinwar getötet habe. Sie auch. Ich frage sie, ob sie diese Aussage, diese deutliche Kritik an der Hamas öffentlich sagen könne, oder ob das für sie gefährlich werden könnte. Doch Maysaa besteht darauf.
Ich weiss, dass die Rehabilitation unserer Seelen und unserer Gesellschaft schwierig sein wird
Maysaa, Expertin für Krisen- und Katastrophenmanagement, macht sich wenig Illusionen, wie es weitergehen könnte. Selbst wenn es zu einem Waffenstillstand zwischen Israel und der Hamas kommen sollte, werde sich die Situation in Gaza nicht so bald ändern. «Ich weiss, dass die Rehabilitation unserer Seelen und unserer Gesellschaft, dass der Wiederaufbau unserer Häuser und Wohnviertel sehr, sehr schwierig sein wird.» Deswegen möchte sie mit ihrer Familie Gaza verlassen und auswandern.
Maysaa und ihre Familie gehörten vor dem Krieg der oberen Mittelschicht an. Und auch jetzt ist sie vergleichsweise privilegiert: Im Gegensatz zu vielen Menschen in Gaza hat sie noch eine Arbeit und ein Einkommen. Ihre engste Familie hat den Krieg bis jetzt überlebt.
Nur ein kleiner Ausschnitt
Maysaas Geschichte zeigt nur einen kleinen, persönlichen Ausschnitt aus Gaza und ist nicht repräsentativ. Sie erzählt auch nicht vom Horror der Bombardierungen, vom alltäglichen Sterben und Leiden. Trotzdem ist es, denke ich, wichtig und wertvoll, «ganz normalen Leuten» aus Gaza eine Stimme zu geben.
Ich habe Maysaa als sehr reflektiert kennengelernt. Offen hat sie ihre Gedanken und ihre Erlebnisse mit mir geteilt. Und sich, trotz der unfassbar schwierigen Lage in Gaza, auch immer nach meinem Wohlbefinden erkundigt und mir kürzlich frohe Festtage gewünscht.