Nach den Massenprotesten in Hongkong hat die Regierungschefin Carrie Lam bereits Anfang Monat angekündigt, im Konflikt mit den Demonstranten auf einen Dialog zu setzen. Man müsse Wege finden, um die Unzufriedenheit der Gesellschaft zu thematisieren und Lösungen zu finden. Vor dem ersten solchen «Bürgerdialog» kritisiert der Journalist Bruce Lui dagegen, es gehe Lam gar nicht darum, Lösungen zu finden.
SRF: Carrie Lam will morgen die Öffentlichkeit in einem ersten sogenannten «Bürgerdialog» treffen. Wird das funktionieren?
Bruce Lui: In der Vergangenheit hatte Carrie Lam schon eine ganze Reihe von öffentlichen Dialogen über politische Reformen und auch über die Projekte zur sozialen Entwicklung abgehalten. Diese sind gescheitert. Es fehlte das Herz zur Problemlösung, die Dialoge wurden jedes Mal abgebrochen. Diesmal ist die Kernforderung der Öffentlichkeit jedoch klar: Gerechtigkeit, insbesondere was die Polizeigewalt angeht. Die Regierung hat aber schon vor dem Dialog gesagt, dass sie auf diese Forderung nicht eingehen wird. So ist es natürlich schwierig, einen Dialog zu führen, der wirklich etwas bedeutet.
Sie versucht, die Polizei zu schützen und nicht die sieben Millionen Menschen in Hongkong.
Sie glauben also, Carrie Lam ist es nicht ernst damit?
Nein. Sie hat schon früher gesagt, es sei ausgeschlossen, eine unabhängige Untersuchung einzusetzen, um das Problem mit der Polizei anzugehen. Und das ist nun mal das grosse Thema in Hongkong: Ist die Polizei gerecht? Ist das Justizsystem fair? Aber Carrie Lam hat gesagt, das Einzige, was sie tun könne, sei es, eine unabhängige Untersuchung zu verhindern. Sie versucht, die Polizei zu schützen und nicht die sieben Millionen Menschen in Hongkong.
Wieso überhaupt dieser «Bürgerdialog», wenn von Anfang an klar ist, dass Lam nicht nachgibt?
Ich denke, das ist die Strategie. Indem sie die Tür schliesst, gibt es keine Hoffnung mehr. Der ganze Dialog wird nur über die Wirtschaft sein. Die Gewalt gibt es nur, weil die Regierung das Problem nicht an der Wurzel packen will: die Ungerechtigkeit der Polizisten, die mutmasslich exzessive Gewalt und die Kooperation mit der Regierung. Wenn man dieses Problem nicht grundsätzlich politisch lösen will, glaubt niemand an diesen Dialog mit den Bürgern. Nur die wirtschaftlichen Probleme anzuschauen und die politischen Probleme ausser Acht zu lassen, ist der falsche Fokus.
So ein Dialog kann nur weitergehen, wenn die Regierung ihr Herz öffnet, um das Kernproblem anzugehen – und dies auch mit Demut und Verantwortung.
Geht die Taktik, dass die Regierung die radikalen Demonstranten zu isolieren versucht denn auf?
Nein – ich glaube nicht, dass das funktioniert. Es gab eine Umfrage in Hongkong, die gezeigt hat, dass die Mehrheit die Einrichtung einer unabhängigen Untersuchung zum mutmasslichen Polizeiproblem fordert. Wenn man das ignoriert, wird man bei der Bevölkerung nicht populär werden, vielleicht höchstens bei 20 Prozent. So ein Dialog kann nur weitergehen, wenn die Regierung ihr Herz öffnet, um das Kernproblem anzugehen – und dies auch mit Demut und Verantwortung. Wenn es solche Proteste in einer chinesischen Stadt gäbe, wäre der Bürgermeister schon lange zurückgetreten. Auch in Hongkong ist die Regierung zur Rechenschaft verpflichtet, aber kein einziger Beamter wird in dieser Hinsicht zur Rechenschaft gezogen.
Das Interview führte Claudia Stahel.