Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu hat die Tötung von Hamas-Chef Yahya Sinwar als wichtige Etappe im Gaza-Krieg bezeichnet. Wie es nun mit der Terrororganisation weitergeht, ist allerdings offen. Der Islamwissenschaftler Reinhard Schulze erklärt, wie sich die Hamas jetzt neu aufstellen könnte – personell, politisch und militärisch.
SRF News: Mit Sinwar ist der letzte grosse Name in der Führungsriege der Hamas getötet worden. Wer könnte die radikal-islamische Organisation künftig anführen?
Reinhard Schulze: Bereits im August – nach der Tötung von Hamas-Auslandchef Ismail Hanija in Teheran – hat eine Art Machtwechsel innerhalb der Hamas stattgefunden: Weg von der Auslandsorganisation, die ihr Zentrum in der katarischen Hauptstadt Doha hat, hin zum Gazastreifen.
Sinwar stand für die Hamas, die sich im Gazastreifen selbst organisiert. Er versuchte, die Organisation aus Gaza heraus an Teheran heranzuführen und sie so neu zu legitimieren.
Für den Iran ist die aktuelle Situation also besonders kritisch: Jetzt wird sich zeigen, wie stark seine ‹Achse des Widerstands› noch ist.
All das ist mit Sinwars Tod infrage gestellt. Die Auslandsorganisation der Hamas könnte jetzt wieder versuchen, die Definitionsmacht darüber zurückzuerlangen, was die Hamas ist. Sie könnte darauf abzielen, die eigene Aussendarstellung zu stärken, um damit eine neue Politik gegenüber der Hamas zu schaffen. Auch innerhalb des Gazastreifens. In der Warteschleife sitzt hier vor allem Chalid Maschal.
Wie könnte diese neue Politik aussehen?
Es gibt innerhalb der Hamas einen Richtungsstreit zwischen den «Iranisten», für die auch Sinwar stand, und den «Arabisten». Letztere versuchen, sich vom Iran fernzuhalten und Hamas als arabisch-palästinensische Widerstandsorganisation zu porträtieren. Sinwar hat geglaubt, er könne Iran für seine Politik instrumentalisieren. Damit ist er gescheitert. Das könnte zu einer Machtverlagerung zugunsten der Auslandsorganisation der Hamas führen.
Damit verbunden wäre eine Entfernung vom Verbündeten Iran?
Es könnte zu einer Art «Ent-Iranisierung» kommen. Das hat sich in den letzten Wochen und Monaten bereits in verschiedenen Feldern der «Achse des Widerstands» abgezeichnet. Selbst innerhalb der Schiitenmiliz Hisbollah im Libanon gibt es Stimmen, die eine Loslösung von Iran fordern.
Für Teheran ist die aktuelle Situation also besonders kritisch: Jetzt wird sich zeigen, wie stark seine «Achse des Widerstands» noch ist und inwiefern es seine Stellvertreter noch binden kann. Es könnte sein, dass die Hamas die erste dieser Organisationen ist, die versucht, eine eigenständige Politik durchzusetzen – auch entgegen der Interessen des Iran.
Das Gespräch führte Vera Deragisch.