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Trauma-Experte im Interview Geiseln nach Freilassung: der Schock der Freiheit

Der Trauma-Experte José Brunner erklärt, wie die aus monatelanger Geiselhaft befreiten Israelis zurück in ihr Leben finden.

José Brunner

Historiker

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Der schweizerisch-israelische Wissenschaftshistoriker und Politologe José Brunner ist emeritierter Professor der Universität Tel Aviv. Dort gründete er 2011 zusammen mit Rechtsanwalt Yossi Hayut die erste Legal Clinic für die Rechte von Holocaustüberlebenden in Israel. Brunner ist 1954 in Zürich geboren und aufgewachsen und lebt seit 1973 in Israel.

SRF News: Hamas und Israel tauschen Geiseln gegen Gefangene aus. 18 Geiseln sind inzwischen frei. Wie präsent sind sie in der israelischen Gesellschaft? 

José Brunner: Am ersten Tag ihrer Freilassung sind sie ausserordentlich präsent, da die israelischen Medien das Geschehen wie eine Reality-Show inszenieren. Jeder Schritt – von der Übergabe ans Rote Kreuz bis zur Ankunft im Spital – wird ausführlich dokumentiert, kommentiert und interpretiert. Beim ersten Mal liefen mir Tränen herunter. Doch die Geiseln haben keine Privatsphäre, was dringend notwendig wäre.

Seit Jahren gilt: Wer Geiseln zurückholen will, muss ein Vielfaches an Palästinensern freilassen.

Die Hamas muss 33 Geiseln freigeben, während Israel knapp 2000 palästinensische Häftlinge entlässt. Wird das in Israel als gerecht empfunden?

Das ist ein Preis, an den man sich gewöhnt hat. Seit Jahren gilt: Wer Geiseln zurückholen will, muss ein Vielfaches an Palästinensern freilassen, damit ein Abkommen zustande kommt.

Menschen mit israelischen Fahnen vor Zaun und Stadtansicht.
Legende: Israelis warten auf Landsleute, die aus der Geiselhaft der Hamas freikommen. Für die Freigelassenen bedeutet die grosse Aufmerksamkeit auch grossen Stress. Reuters/Ronen Zvulun

Unter den Freigelassenen sind auch Terroristen und mehrfache Mörder. Schürt das Angst?

Die israelische Gesellschaft ist in dieser Frage gespalten. Rechte fürchten, dass die freigelassenen Gefangenen künftig mehr Israelis töten werden als Geiseln befreit wurden. Die Linke argumentiert, dass zuerst die eigenen Leute heimkehren müssen, bevor Massnahmen ergriffen werden, um eine Wiederholung des Terroranschlags vom 7. Oktober zu verhindern.

Wohin gehen die palästinensischen Gefangenen nach ihrer Freilassung?

Es herrscht Chaos. Einige werden nach Ägypten abgeschoben, andere kehren nach Gaza oder ins Westjordanland zurück. Ein kürzlich Freigelassener wurde bei einer Razzia im Westjordanland von der israelischen Armee getötet.

Insbesondere traumatisierte Männer neigen zu Gewalt.

Viele der freigelassenen Palästinenser sassen in Administrativhaft, oft ohne Anklage. Wer hilft ihnen, mit ihren Traumata umzugehen?

Im Westjordanland und in Gaza gibt es kein Gesundheitssystem wie in Israel. Ob sie Hilfe erhalten, ist ungewiss. Manche wurden in israelischen Gefängnissen gefoltert oder unter unmenschlichen Bedingungen inhaftiert. Die Forschung zeigt, dass insbesondere traumatisierte Männer zu Gewalt neigen. Das birgt die Gefahr, dass einige sich erneut militanten Gruppierungen anschliessen und wieder aktiv werden gegen die israelische Besatzung.

Der Gefangenen- und Geiselaustausch hinterlässt viele Traumata. Ist das das zentrale Thema im Nahostkonflikt?

Ja, absolut. Es gibt das kollektive Trauma der Palästinenser, die Nakba von 1948, die sich tief ins kollektive Gedächtnis eingebrannt hat. Die Angst vor erneuter Vertreibung ist allgegenwärtig. Auf israelischer Seite weckt der 7. Oktober unweigerlich Erinnerungen an den Holocaust.

Manche sagen, dass die fehlende Anerkennung des Traumas der jeweils anderen Seite ein Hindernis für den Frieden ist. Stimmen Sie dem zu?

In der israelischen Gesellschaft herrscht ein Empathieverbot gegenüber palästinensischen Opfern. Man darf nicht offen Mitgefühl für palästinensische Familien zeigen, die Bombardierungen erlitten haben. Auf palästinensischer Seite ist es ebenso undenkbar anzuerkennen, dass sich Israelis existenziell bedroht fühlen.

Das Gespräch führte David Karasek.

Krieg im Nahen Osten

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Die Konflikte in Israel, im Westjordanland, im Gazastreifen und in Libanon halten an. Hier finden Sie alle unsere Inhalte zum Krieg im Nahen Osten.

Tagesgespräch, 3.2.2025, 13:00 Uhr ; 

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