Es gehört einiges dazu, sich in diesen Zeiten um die Präsidentschaft Argentiniens zu bewerben: Rund 140 Prozent Inflation im Jahr, vierzig Prozent Armut und eine Währung, die jeden Tag an Wert verliert.
Der Antipolitiker
Ein Politik-Outsider profitiert von der Unzufriedenheit und führt die Umfragen an: Javier Milei, ein Ökonom mit Spitznamen «Perücke», aufgrund seiner nach eigenen Angaben bewusst unfrisierten Haare. Milei bezeichnet sich selbst als Anarcho-Kapitalist, der gegen die «politische Kaste» antritt. Organhandel findet er legitim. Waffengesetze will er lockern. Wenn Unternehmen Flüsse verschmutzen – wo ist das Problem? Politische Gegner und auch den Papst beschimpft er regelmässig mit drastischen Worten.
Das Steckenpferd seiner Kampagne: Er will die Zentralbank abschaffen und die Wirtschaft dollarisieren. Das kommt insbesondere bei jenen an, die trotz mehrerer Jobs nur mit Ach und Krach genug zum Leben haben. Die Landeswährung Peso nannte Milei kürzlich einen «Sch...dreck». «Er ist wütend, und das gefällt uns, wir sind es auch. Er zeigt Gefühle und versteht: Wenn etwas falsch läuft, muss man sich aufregen und etwas dagegen tun», sagt Marcelo «Ballester» Gil, Wahlkämpfer für Milei im Grossraum Buenos Aires.
Die guten Umfragewerte von Milei brachten die restlichen Präsidentschaftskandidaten und -kandidatinnen im Wahlkampf in die Defensive: Milei setzte die Themen, war jeden Tag in den Medien präsent. Dennoch ist es unwahrscheinlich, dass der Libertäre im ersten Wahlgang gewinnt.
Das Polit-Establishment
Zwei weitere Kandidaten haben realistische Chancen, es neben Milei in eine Stichwahl zu schaffen – sie gehören zum Polit-Establishment. Sergio Massa, der amtierende Wirtschafts- und Finanzminister, gilt als wirtschaftsfreundlich, verspricht aber auch gerechte Löhne und Gefängnisstrafen für Steuersünder. Die hohe Inflationsrate und das insgesamt schlechte Image der Regierung kosten ihn Stimmen. Doch Massa trat sein Amt vor einem Jahr an, als die Teuerungssspirale bereits in Gang war. Seine Wähler geben ihm deshalb keine Verantwortung an der aktuellen Krise.
Die Wirtschaftsliberale und ehemalige Sicherheitsministerin Patricia Bullrich muss um ihren Einzug in eine Stichwahl bangen: Sie liegt in den meisten Umfragen an dritter Stelle. Bullrich gehört der Partei von Ex-Präsident Mauricio Macri an, was ihr zwar einerseits in konservativen Kreisen Stimmen einbringt, andererseits das Wählerpotenzial begrenzt. Macri nahm 2018 einen gigantischen Kredit beim Internationalen Währungsfonds auf. Die hohen Schuldendienste halten Argentinien bis heute im Würgegriff.
Der Wunsch der Wählenden
Die Wahl ist auch eine geopolitische Richtungsentscheidung. Wird Argentinien den Brics-Staaten beitreten und so die ohnehin schon wichtigen Handelsbeziehungen mit China intensivieren? Oder wird das Land sich stärker an die USA binden und gar, wie es Kandidat Milei vorschwebt, den US-Dollar als Zahlungsmittel einführen? Wie und ob diese drastische Massnahme wirklich machbar ist, ist umstritten.
Dass ein Kandidat wie Milei so gute Chancen hat, zeigt vor allem eins: Nach vielen Jahren Dauerkrise ist der Wunsch nach Veränderung gross.