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Seit zwei Wochen Proteste Georgien: «Für uns gibt es kein Zurück mehr»

Seit zwei Wochen gehen jeden Abend Zehntausende Georgierinnen und Georgier auf die Strasse. Was treibt sie an?

«Wir standen nahe bei der Reihe von Polizisten», erzählt der 27-jährige Nika. «Plötzlich wurden wir von etwa acht Polizisten gepackt und hinter die Linie gezogen. Sie schlugen uns vor allem ins Gesicht. Dann sehen alle, was mit dir passiert ist. So wollen sie die Leute einschüchtern.» 

Nika ist nur einer von Dutzenden Menschen in Georgien, die in den letzten Tagen mit Brüchen an Nase oder Gesichtsknochen ins Spital eingeliefert wurden. Das Land erlebt Tage wie nie zuvor in seiner Geschichte. Am Dienstag gingen zum dreizehnten Abend in Folge Zehntausende Menschen gegen die Regierung auf die Strasse.

Umstrittene Wahlen

Bei den Parlamentswahlen Ende Oktober hat die Regierungspartei «Georgischer Traum» unter Anzeichen heftiger Manipulation gewonnen. Das versetzte die Regierungskritiker zunächst in Schockstarre.  

Wir hatten gehofft, dass die Wahlen zumindest teilweise fair ablaufen würden.
Autor: Kaki Ketschoschwili Deutschlehrer in Genorgien

«Obwohl unsere Regierung seit einigen Jahren zunehmend autoritär wird, haben wir gehofft, dass die Wahlen zumindest teilweise fair ablaufen würden», erzählt Deutschlehrer Kaki Ketschoschwili. «Und deshalb hatten wir eigentlich keinen Plan, was nach den Wahlen passieren würde.»

Person mit Europa-Flagge bei Nachtprotest auf Strasse.
Legende: Die Massenproteste in Georgien gegen den «Georgischen Traum» und die von ihm beherrschte Staatsmacht reissen nicht ab. Sicherheitskräfte und Beamte gehen dabei immer brutaler gegen Oppositionelle vor. Keystone/Pavel Bednyakov

«Wenn wir jetzt aufgeben, wird es später zu spät sein», sagt Nika. Die aktuelle Repression habe endgültig gezeigt, dass der «Georgische Traum» die Demokratie mit Füssen trete.

Erst als die Regierung ankündigte, Verhandlungen mit der EU auf Jahre zu suspendieren, entlud sich der Frust Tausender Georgierinnen und Georgier. In den ersten Nächten attackierten Protestler das Parlamentsgebäude mit Feuerwerk, dann wurden die Demos weitgehend friedlich.

Die Gewalt der Behörden aber nimmt laufend zu, jüngst wurden oppositionelle Politiker, aber auch kritische Kunstschaffende und einfache Menschen verhaftet.

Maskierte Männer

«Maskierte Männer begannen, unser Büro zu durchsuchen», sagt Marika Mikiaschwili vom oppositionellen Parteibündnis «Für Wandel». Bei der Durchsuchung hätte laut Gesetz ein Vertreter des Bündnisses anwesend sein müssen.

Sie verprügelten einen unserer Parteichefs und schleppten ihn bewusstlos weg.
Autor: Marik Mikiaschwili Aktivistin vom Oppositionsbündnis «Für Wandel»

«Einer unserer Parteichefs hat darauf bestanden, dabei zu sein. Den Männern gefiel sein Ton nicht, also haben sie ihn verprügelt und bewusstlos weggeschleppt.» Die Regierung bezeichnet die Verhafteten als «Drahtzieher» der Proteste.

Doch die Proteste sind organisch – sie brachen aus, als die Opposition am ratlosesten schien. Inzwischen wird in jedem Teil des Landes demonstriert, auch Tausende Staatsangestellte kritisieren den «Georgischen Traum». Viele Medienschaffende, die bei regierungstreuen Fernsehsendern arbeiteten, sind aus Protest zurückgetreten.

Wir wollen nicht in einem Land leben, in dem man vor der Polizei Angst haben muss.

Es gehe ihr nicht bloss um die geopolitische Orientierung – hin zu Europa oder näher an Russland, so die Historikerin Vija Skangale.

«Welche Meinung man hat oder welche Partei man wählt, ist jetzt nicht mehr wichtig», sagt sie. «Es geht darum, dass wir nicht in einem Land leben wollen, in dem man vor der Polizei Angst haben muss.»

Eine Art Endspiel

Vija spricht von der körperlichen und mentalen Müdigkeit nach zwölf Tagen Protest. Es gibt keinen konkreten Plan – ausser weiter zu demonstrieren und Neuwahlen zu fordern. Doch viele sehen die aktuellen Proteste – die heftigsten nach mehreren turbulenten Jahren in Georgien – als eine Art Endspiel.

Es gibt kein Zurück.
Autor: Kaki Ketschoschwili Deutschlehrer in Georgien

«Für uns gibt es kein Zurück», sagt Kaki Ketschoschwili. «Entweder werden wir eines Tages einen demokratischen Staat haben, wo die Menschenrechte respektiert werden. Oder wir haben eine Diktatur. Das können wir nicht akzeptieren.»

 

Rendez-vous, 10.12.2024, 12:30 Uhr;stal

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