Die Nerven liegen blank in Argentinien. Überall wird diskutiert – und das oft ungehalten: auf der Strasse, in der U-Bahn, unter Freunden. Was für ein Land will Argentinien sein? Eins mit einem starken Staat und mit einem öffentlich finanzierten Bildungs- und Gesundheitssystem? Dafür steht Sergio Massa, der amtierende Wirtschafts- und Finanzminister der Mitte-Links-Regierung. Seinen Kampagnenabschluss zelebrierte er in einer öffentlichen Sekundarschule.
Oder wird Argentinien den radikalen Wandel wagen, den der libertäre Javier Milei vorschlägt? Er liess sich auf seiner letzten Wahlveranstaltung in der Millionenstadt Córdoba feiern. Für seine Fans ist er «el león», der Löwe, der das Land umkrempeln will. Milei will die Zentralbank abschaffen und den Dollar als Zahlungsmittel einführen. Der Markt soll alles regeln, auch Bildungsmöglichkeiten und das Gesundheitswesen.
Milei relativiert Verbrechen der letzten Militärdiktatur
Bei den Mitgliedern des Mieterverbands stossen Mileis Vorschläge auf Ablehnung. Sie fragen sich: Werden sie ihre Wohnungen noch bezahlen können, sollte Milei die Wahlen gewinnen? Der selbst ernannte «Anarcho-Kapitalist» könnte den Mietmarkt per Dekret deregulieren, fürchtet Verbandspräsident Gervasio Muñoz.
«Schon jetzt beobachten wir Kurzzeitmietverträge für sechs oder zwölf Monate sowie Wucherpreise», so Muñoz. «Das könnte dann legal werden. Auch ist für uns nicht akzeptabel, dass Milei und seine Kandidatin für die Vizepräsidentschaft die Verbrechen der letzten Militärdiktatur relativieren.»
«Wo ist das Problem, wenn der Markt die Dinge regelt?», fragt Héctor Espinoza, studierter Ökonom und Besitzer eines Getränkemarktes in einem Armenviertel. Wie Milei sieht er in dem aufgeblähten Staatsapparat Argentiniens das grösste Problem: «Wo immer der Staat präsent ist, laufen die Dinge schief. Die meisten staatlichen Unternehmen sind defizitär.»
Ein «Weiter-so» könne es nicht geben. «Wir haben eine Inflation von 142 Prozent im Jahr. Der Peso verliert ständig an Wert. Wir brauchen einen Wandel – und dieser Wandel heisst Milei», sagt Espinoza. In einkommensschwachen Gesellschaftsschichten hat Milei viele Anhänger. Viele glauben, die Lage könne nicht schlimmer werden als sie derzeit ist.
Wenn Milei auf einen Schlag die Grenzen für Importe öffnet, werden Tausende von Unternehmen schliessen. Das würde eine soziale Krise auslösen.
Das stimme nicht, sagt Daniel Rosato, Leiter des Verbands der kleinen und mittleren Industrieunternehmen: «Wenn Milei auf einen Schlag die Grenzen für Importe öffnet, werden Tausende von Unternehmen schliessen. Das würde eine soziale Krise auslösen.» Er könne verstehen, dass die Angestellten seiner Papierfabrik wütend sind, weil ihre Gehälter kaum bis ans Monatsende reichen.
Dennoch bat er sie vor kurzem darum, nicht aus der Wut heraus zu entscheiden, sondern zu analysieren: Wofür stehen die Kandidaten? «Milei plädiert für Privatisierungen. Die meisten der Arbeiter schicken ihre Kinder in öffentliche Schulen», erklärt Rosato. Schichtleiterin Alicia Alvarez sagt, das Gespräch mit dem Chef habe sie zum Nachdenken gebracht: «Viele von uns haben grosse Lust, die jetzige Regierung abzustrafen. Aber wir müssen überlegen, was das für Argentinien bedeutet.»