So einig wie in diesen Tagen hat man die Nato lange nicht mehr erlebt. Der russische Truppengrossaufmarsch hat die westliche Militärallianz zusammengeschweisst, nachdem sie zuvor vier Jahre lang durch Ex-US-Präsident Donald Trump schwer beschädigt worden war.
Dan Smith, der Chef des renommierten Stockholmer Friedensforschungsinstituts Sipri, ist deshalb überzeugt, dass eine gewisse Dramatisierung der Ukraine-Krise durchaus im Interesse der Nato liegt.
Es sei jedoch falsch, ja fahrlässig, in der aktuell höchst angespannten Situation Krieg als zwangsläufige Folge darzustellen. «Es gibt einen Ausweg – man muss ihn bloss finden.»
Es gibt einen Ausweg – man muss ihn bloss finden.
Auch historisch betrachtet seien, so Dan Smith, Kriege nie unausweichlich: «Weitaus häufiger münden Phasen extremer Spannungen dann doch nicht in militärische Gewalt.» Etwa in der Suez-Krise oder der Kuba-Krise.
Keine Lösung über Nacht
Smith ist Realist: Er rechnet nicht mit einer Lösung über Nacht. Vielmehr mit einer langen, mühseligen Phase des permanenten Krisenmanagements. Als Ausgangspunkt für eine Wende von der Eskalation zur Deeskalation sieht er ein erneutes, physisches Gipfeltreffen zwischen den beiden Präsidenten Wladimir Putin und Joe Biden.
Zumal Putin weder mit den Europäern, noch im Nato-Russland-Rat oder in der OSZE verhandeln wolle. Beide Staatschefs müssten nach ihrer Begegnung überzeugt und überzeugend verkünden: Wir wollen keinen Krieg! Der als Vermittler aktive französische Präsident Emmanuel Macron regt nun genau ein solches Spitzentreffen an.
Als einen der grössten Fehler des Westens im Umgang mit Russland bezeichnet Dan Smith, dass er «seit zwei Jahrzehnten dessen Bedürfnis nicht respektiert, weiterhin als Supermacht zu gelten. Und Russland erst dann ernst nimmt, wenn der Kreml bedrohlich mit dem Säbel rasselt.» Zumal es ja nichts koste, Moskau auf Augenhöhe zu begegnen. «Tun wir das nicht, dann hat das einen Preis, wie wir jetzt sehen.»
Verständigungsraum zwischen Moskau und dem Westen
Nach einem Grundbekenntnis gegen einen Krieg wären inhaltliche Felder zu definieren, wo es Verhandlungsmasse gibt. Ein Rückzug der Nato aus ihren osteuropäischen Mitgliedsländern sei keine Option.
Auch nicht der Ukraine, Georgien, Schweden oder irgendwem zu verbieten, jemals Nato-Mitglied zu werden. Aber es gebe Raum zwischen den «roten Linien» Moskaus und den «roten Linien» des Westens, also Bereiche, wo man sich verständigen könnte.
Smith denkt dabei an mehr Transparenz, beidseitig. An Abrüstung, auch nukleare. An weniger Manöver im grenznahen Raum. An den Rückzug von Raketenbasen. Und an Diskussionen darüber, wo die Ukraine steht zwischen Russland und dem Nato- und EU-Raum.
Offene Fragen – und Verhandlungsstoff
Damit für die Ukraine solche Diskussionen akzeptabel würden, müsste Russland nachdrücklich deren Souveränität anerkennen. Gleichzeitig müsse der Westen einsehen, wie schwer sich Russland bis heute mit der Nato-Osterweiterung tut – und dass es darauf Antworten braucht. Selbst, wenn es andere sind als jene in Moskaus Maximalforderungen.
Es gibt also, so der Sipri-Direktor, viele offene Fragen. Doch damit zugleich reichlich Stoff für Verhandlungen. Sie dürften Monate, gar Jahre dauern. Aber Hauptsache, sie beginnen bald.