Glückliche Menschen sehen anders aus. Als würde er gerade einer Beerdigung vorstehen, erklärte der finnische Staatspräsident Sauli Niinistö am Mittwoch dieser Woche mit ernster Gesichtsmiene die Mandatszeit des nationalen Parlaments für beendet. Die ganz in schwarz gekleideten 200 Abgeordneten des Eduskunta (finnisch für Reichstag) quittierten diese formelle Ankündigung mit einem dreifachen, äusserst verhaltenen Hurraruf – ganz wie es das parlamentarische Reglement vorschreibt.
Wahlkampf nach «Trauerkaffee»
Während mit dem Ende der letzten Parlamentssitzung auch die politische Karriere einiger Dutzend vor allem älterer Abgeordneten zu Ende ging, treten 170 der Amtsinhaberinnen und Amtsinhaber bei den Wahlen diesen Sonntag erneut an. Sie verkürzten am Mittwoch entsprechend ihre – ebenfalls reglementarisch vorgeschriebene – Anwesenheit zum «Trauerkaffee» in der Wandelhalle und eilten in ihre Wahlkreise im ganzen Land zurück.
Dabei gab es zuletzt nicht nur im finnischen Parlament, sondern auch in der Bevölkerung des nordischen Landes viel zu besprechen: «Wir sind in einer ganz schwierigen Lage», sagt Mikko Kärnä, Parlamentsabgeordneter aus Lappland für die bürgerliche Zentrumspartei.
Der 42 Jahre alte frühere Berufsoffizier der finnischen Grenztruppen tauscht auf dem Weg aus dem Parlament zum nächsten Wahlkampfauftritt im Stadtzentrum von Helsinki den schwarzen Anzug mit einer Militäruniform, die seinen Namen und den Slogan «Taistelee Puolestasi» trägt. «Das bedeutet: Ich kämpfe für Dich», erklärt Kärnä und macht damit klar und deutlich, worum es ihm in diesem Wahlkampf geht: «Wir müssen unser Land schützen.»
Dramatischer Stimmungswechsel
Der Stimmungswechsel im nordosteuropäischen EU-Mitgliedsstaat ist dramatisch. Noch Ende 2021 galt in Helsinki die Devise, dass Finnland gegenüber dem grossen östlichen Nachbarn Russland eine Brückenbauer-Rolle einnimmt – und sich militärisch der Neutralität verpflichtet.
Doch der russische Überfall und anhaltende Einfallskrieg auf die Ukraine veränderte alles: Schon wenige Tage nach dem 24. Februar 2022 reiste der finnische Staatspräsident Niinistö nach Washington und ebnete damit den Weg Finnlands – und indirekt auch Schwedens – in die Militärallianz Nato. Mit der letzten noch ausstehenden Ratifizierung durch die Türkei wurde nun diese Neuausrichtung endgültig besiegelt. Schweden muss allerdings noch auf die entsprechenden Zusagen aus Ankara und auch aus Ungarn warten.
Bald eine nordische «Mini-Nato»?
In den Gesprächen mit Wählerinnen und Wählern spürt Mikko Kärna nicht nur die überwiegende Zustimmung zu diesem eingeschlagenen Weg, aber auch die Sorge vieler Menschen über die sicherheitspolitische Zukunft Finnlands in unmittelbarer Nachbarschaft zu einem autoritär regierten und unberechenbaren Nachbarn: «Jetzt geht es darum, zusammen mit unseren Partnern die nordische Dimension der Nato zu stärken», betont der Ex-Militär aus Nordfinnland.
Ein erster Schritt in Richtung einer «Mini-Nato» haben die (bestehenden und künftigen) nordischen Mitglieder bereits gemacht: Vor kurzem vereinbarten sie die Schaffung einer gemeinsamen Luftverteidigung.
Finnland plagen auch andere grosse Sorgen: Nach der Corona-Pandemie ist der ausgebaute nordische Wohlfahrtsstaat hoch verschuldet – mit fast 30'000 Franken pro Einwohner. Das ist mehr als dreimal so viel wie in der Schweiz. Nach Berechnungen des finnischen Finanzdepartements muss Finnland in den kommenden Jahren Darlehen in zweistelligen Milliardenbeiträgen aufnehmen, alleine um die Schuldzinsen bezahlen zu können.
Viermal zu wenig Fachkräfte
Bei einer Arbeitslosenrate von 6.5 Prozent (Schweiz: 2.1 Prozent) leidet das nordische Land aber gleichzeitig unter einem akuten Arbeitskraftmangel: «Uns fehlen die Menschen», betont Heli Jimenez, Marketingleiterin bei «Team Finland» im finnischen Wirtschaftsministerium: «Wir suchen Facharbeiter für unsere IT-Industrie, aber auch Kräfte im Pflegebereich, dem Tourismus, Bildungssektor und so weiter.»
Bei einem berechneten Bedarf von 50'000 neuen Arbeitskräften aus dem Ausland pro Jahr konnten im zurückliegenden Jahr gerade einmal gut 12'000 Arbeitsbewilligungen für Neuzuzüger erteilt werden.
In den letzten vier Jahren wurde Finnland von einer Mitte-links Regierung unter dem Vorsitz der erst 37 Jahren alten Sozialdemokratin Sanna Marin geführt. Sie – und die ebenfalls weiblichen Präsidentinnen der Koalitionsparteien – prägten dabei das Bild in der Welt eines weltoffenen und progressiven Landes: «Das ist nicht falsch, entspricht aber nicht der ganzen Wirklichkeit», betont die Politikwissenschafterin Johanna Vuorelma im Gespräch mit SRF.
«Ja, wir verstehen uns als progressive Gesellschaft mit starken Frauen und einem ausgebauten Wohlfahrtsstaat, aber auch als Land der wehrhaften Männer, die Finnland gegen einen übermächtigen Nachbarn im Osten verteidigen», sagt Vuorelma.
Konkordanz auf Finnisch
Je nach Wahlresultat wird dann in der Regierungszusammensetzung die eine oder andere Seite sichtbarer. Angesichts der grossen Sorgen und vielfältigen Krisen dürften bei diesen Wahlen eher die «wehrhaften Männer» wieder zulegen, so die Politikexpertin der Universität Helsinki. Wie stets in Finnland verteilen sich die Stimmen über die verschiedenen Parteien so stark, dass am Ende eine grosse Koalition aus vier Parteien oder mehr gebildet wird.
Diese finnische Variante der Konkordanz ist ein Erfolgsrezept. Finnland musste in der Vergangenheit immer wieder Rückschläge erfahren. Dazu gehören der blutige Bürgerkrieg nach Ausrufung der Unabhängigkeit 1917, die bewaffneten Konflikte mit der Sowjetunion und wirtschaftliche Krisen mit Arbeitslosenquoten von bis zu 25 Prozent.
Dass es Finnland gelang, bereits 1906 (Schweiz: 1971) als erstes Land in Europa das Stimm- und Wahlrecht für Männer und Frauen einzuführen – und zu einem der wohlhabendsten und egalitärsten Wohlfahrtsstaaten weltweit zu werden – erfüllt heute viele der gut 5.5 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner mit einer so grossen Zufriedenheit, dass Finnland auch in diesem Jahr von der UNO erneut zum «glücklichsten Volk der Welt» erkoren worden ist.
Die Suche nach dem «inneren Finnen»
Für «Team Finland»-Direktorin Heli Jimenez ist dies keine Überraschung: «Wir fühlen uns als Menschen und Volk sehr wohl. Dazu tragen die Work-Life-Balance und die Natur bei», ist sie überzeugt und hat deshalb – auch mit Blick auf Jagd nach «neuen» Finninnen und Finnen – einen Aufruf gestartet: «Wir suchen derzeit Menschen aus der ganzen Welt, welche ihren ‹inneren Finnen› finden wollen.»
Konkret können sich noch bis zu diesem Sonntag Menschen aus der ganzen Welt dafür bewerben, in diesem Sommer für einen «Masterkurs im Glücklichsein» nach Finnland zu kommen. Und das auf Kosten der finnischen Steuerzahlerinnen und Steuerzahler.