«Nun soll das Volk neu über die Zukunft des Parlaments entscheiden», sagte Emmanuel Macron, als er am 9. Juni nach verlorener EU-Wahl das Parlament auflöste und Neuwahlen anordnete.
Das Volk entscheiden lassen, ist im Grundsatz demokratisch. Die Frage ist nur, ob der Entscheid von Frankreichs Präsident nicht in erster Linie taktisch war.
Macron schöpft Kompetenz maximal aus
Zweifel sind erlaubt: Über die Auflösung des Parlaments hat er allein entschieden. Nach Verfassung müsste er sich dazu vorher mit den Vorsitzenden der beiden Kammern des Parlaments absprechen. Dies hat er nur pro forma eingehalten. Die Präsidentin der Nationalversammlung war dagegen, wie sie sagt. Der Senatspräsident will vom Entscheid des Präsidenten in einem Telefonat erfahren haben, das unmittelbar nach Bekanntgabe der Wahlresultate stattgefunden und bloss anderthalb Minuten gedauert habe.
Auch die kurze Frist von drei Wochen zeigt, dass der Präsident seine Kompetenz maximal ausschöpft. Er hätte den Parteien für den Wahlkampf auch drei Wochen mehr Zeit geben können. Dann hätte der zweite Wahlgang während den Sommerferien und unmittelbar vor Beginn der Olympischen Spiele stattgefunden. Dies war keine Option. Alternative war bloss eine Parlamentswahl gegen Ende Jahr. Wie es die Opposition schon länger wollte: Ein Misstrauensvotum war bereits in Vorbereitung, die Rechte und die Linke waren sich einig, dass sie die Regierung stürzen wollten.
Präsident Macron wollte wohl Handlungsfähigkeit beweisen und ergriff die Flucht nach vorn. Nun muss sich vorwerfen lassen, er habe Frankreich kurz vor den Olympischen Spielen ins Chaos gestürzt.
Bevölkerung zürnt
Falls Präsident Macron mit der eiligen Neuwahl einen Überraschungscoup inszenieren wollte, ist ihm dies misslungen: Die Wahlmaschine der extremen Rechten steht schon länger unter Dampf. Die Linke brauchte einen knappen Tag, um sich auf ein Wahlbündnis zu einigen. Am meisten verwirrt ist Macrons eigene Basis, wo das Murren über den Präsidenten immer lauter wird.
Mit der breiten Mehrheit der Bevölkerung hat es der Präsident schon länger verscherzt. Darum hat seine Koalition bei der Parlamentswahl vor zwei Jahren nur noch eine relative Mehrheit erhalten. Dass die Wählerinnen und Wählerinnen mit ihren Regierungen unzufrieden sind und abstrafen, ist eine Konstante in der französischen Politik.
Seither hat in der Bevölkerung der Zorn auf Macron noch zugenommen. Sie nimmt ihm übel, dass er seine unbeliebte Rentenreform mit der politischen Brechstange durchgesetzt hat. Auch die Auflösung der Nationalversammlung verstehen viele nicht. Sie sehen es als Beweis, dass der Präsident im Élysée-Palast längst die Bodenhaftung verloren hat.
Pole dürften gewinnen
Soviel ist klar: Die Regierungskoalition wird in dieser ersten Runde am meisten Federn lassen müssen. Was von ihr noch bleibt, wird sich am Sonntagabend zeigen, wenn klar ist, wo ihre Kandidatinnen und Kandidaten bereits aus der Wahl gefallen sind und wie viele von ihnen noch zum zweiten Wahlgang antreten dürfen.
Die beiden Pole rechts und links dürften stärker werden. Unklar ist, ob es nach dem 7. Juli in der Nationalversammlung eine handlungsfähige Mehrheit geben wird. Oder ob sich Rechts und Links nicht gegenseitig blockieren.
Nur so viel ist jetzt schon klar: Mit der Auflösung des Parlaments hat Emmanuel Macron seine Handlungsfähigkeit erst recht verspielt.