«Gegen unseren Briefträger konnte man nichts machen», blickt Peter Bichsel in einer Kolumne auf seine Kindertage zurück. Es sind gequälte Erinnerungen an einen uniformierten Kinderschreck und ein Stück Schweizer Geschichte:
«Er kam jeden Tag etwas später als erwartet, also müsste er ab und zu auch früher als erwartet gekommen sein. In Wirklichkeit aber arbeitete er ohne Zeitplan. Die Post wurde damals noch zweimal am Tag zugestellt, und so war er also den ganzen Tag in unserem Quartier anzutreffen. Wer seine Post etwas früher wollte, suchte ihn in der nächsten Strasse. (...)
Im Übrigen war er eine Respektsperson. Er trug seine Uniform wie ein General, und verteilte die Post wie eine persönliche Gunst. (...) Er war so etwas wie ein Götterbote, und wenn man ihn sah, dann hatte man nicht den Eindruck, dass er die Briefe auf dem Postamt abholte. Es waren sozusagen seine eigenen Briefe – auf die er ab und zu wohlwollend verzichtete, sie wohlwollend einem glücklichen oder unglücklichen Empfänger übergab.»
Was der Solothurner Schriftsteller beschreibt, spielt nirgendwo und überall zugleich: Bichsels Briefträger ist ein Nationaldenkmal. Lange Jahre war er der erste Repräsentant des Bundesstaates. Über das fein verästelte System an Poststellen erreichte er die entlegensten Winkel des Landes.
Wo die Filialen alle standen und die Briefe ihre Abnehmer fanden, wusste allein der Pöstler: Die «Briefträgergeografie» vermass, noch lange bevor es Postleitzahlen gab, die ganze Schweiz.
Vielerorts empfing der Briefträger die Postsäcke am Bahnhof, sortierte und lieferte die Briefe aus. Er brachte die AHV, erledigte Auszahlungen. Für manch einsame Hausfrau war der freundliche Beamte Kummerkasten – und manchmal auch mehr.
Berufung und Bürde
Die Post erlegte den Beamten einen strengen Verhaltenskodex auf – auch ausser Dienst, wie eine interne Wegleitung von 1955 klarstellt: Durch sein Verhalten habe sich der Angestellte «der Achtung und des Vertrauens würdig zu erweisen, die seine amtliche Stellung erfordert».
Eine Co-Produktion von DRS und PTT zog noch 1976 Pöstler vom alten Schlag heran. Das Schulfernsehen ermunterte auch das weibliche Geschlecht: «Der Zustellbeamte, man erwartet ihn, es kann aber auch eine Sie sein. Man erwartet aber auch Freundlichkeit und Zuverlässigkeit.» Bis Briefträgerinnen zum gewohnten Strassenbild gehörten, sollte es aber bis in die 1990er dauern.
Egal ob in Zürichs regennassen Gassen oder mit den Skiern auf dem Simplon: Am Ende, versprach das Schulfernsehen angehenden Briefträgern, «wiegt die Gewissheit, geschätzt zu werden, vieles wieder auf.»
Der Faktor Mensch schwindet
Doch die Ernüchterung folgte auf dem Fuss. Mit der boomenden Wirtschaft erreichte der Briefverkehr ungekannte Ausmasse, die Effizienz musste erhöht werden: 1964 führte die Schweiz als drittes Land nach Deutschland und den USA Postleitzahlen ein, vier Jahre später folgten die ersten Briefsortiermaschinen.
Der Briefträger als wandelnder Atlas hatte ausgedient. Arbeitsteilung und Automatisierung versetzten ihn strikt ans Ende der Zulieferkette. Zum teuren, diplomierten Postbeamten gesellte sich zunehmend Aushilfspersonal. Bichsels «Götterbote» wurde zum modernen Dienstleister herabgestuft:
In der Zürcher Sihlpost versicherte ein altgedienter Briefträger 1973 dem Schweizer Fernsehen, das Prestige seines Berufes sei ungebrochen: «Der Briefträger ist immer noch eine Respektsperson.» Und: «Ich gehe nicht auf meine Tour, weil ich muss, sondern weil ich will.» In der Berner Schanzenpost klang es anders: «Es herrscht jetzt Fabrikbetrieb. Ich würde den Beruf wohl nicht mehr wählen.»
Im selben Jahr zeichnete auch die «Rundschau» ein düsteres Bild. Das Personal ging ob der «Postflut» auf dem Zahnfleisch: «Zwar versucht unsere Post zu rationalisieren, wo immer es geht. Doch nicht überall lässt sich der Mensch durch eine Maschine ersetzen». Und: Der Beruf des Briefträgers, «einst Symbol für einen begehrten und sicheren Arbeitsplatz, wird immer mehr zum Sorgenkind der PTT».
Die «Turnschuhbrigade» übernimmt
Heute ist es mit der Postromantik endgültig vorbei. Der moderne Briefträger trägt gelbe Signalweste statt Uniform, statt mit dem Velo surrt er mit dem Elektro-Töffli um die Strassenecke. Ein wahrhaft umweltschonender Zeitgenosse, der weder die CO₂-Bilanz noch die Produktivität belastet.
Seit 2011 werden Briefe mit automatischen Lesegeräten nach Strasse und Hausnummer geordnet; die Post ist seither zu einem beträchtlichen Teil bis auf Stufe Briefkasten vorsortiert. Das spart Zeit und Ressourcen: «Insgesamt können mehrere hundert Stellen eingespart werden», vermeldete die Post mit der Einführung der «Gangfolgesortierung».
Mit der Arbeitsteilung zwischen Mensch und Maschine wächst eine ganze Generation von Teilzeitpöstlern heran: Die Post muss laut ungeschriebenem Gesetz zwar weiter bis 12:30 Uhr im Briefkasten sein. Manuelle Vorsortierung im Morgengrauen ist aber oft nicht mehr gefragt. Die anfallende Arbeit reicht vielerorts nicht mehr für ein Vollzeitpensum; branchenfremde Kräfte – die «Turnschuhbrigade» – sind auf dem Vormarsch.
Kampf gegen logistische Leerläufe
Und auch mit den Freiheiten von einst ist es vorbei. Die Briefträger unterstehen einem «Teamleader». Er wacht über durchschnittlich sechs bis zehn Boten, die flexibel mehrere Zustellrouten betreuen. Ihr Zeitplan ist penibel durchgetaktet: Jede Sekunde zählt. Der Teamleader lotet aus, wie die Effizienz weiter gesteigert werden kann.
Das wichtigste Arbeitsinstrument der rund 13'500 Briefträger ist der Scanner. Er erfasst nicht nur die Post, sondern auch Arbeitszeit und Zustellgeschwindigkeit des Briefträgers: «Die Kontrollmöglichkeiten werden nicht durchwegs geschätzt. (...) Durch die Gruppenbildung lassen sich die Leistungen der Mitarbeitenden besser vergleichen, was ab und zu Konflikte auslöst», schreibt ein Teamleiter in der hauseigenen Publikation «Gelb bewegt»
In einem «Rundschau-Bericht» von 2014 ist aus dem «Sorgenkind» der 1970er-Jahre der vollautomatisierte Pöstler geworden, Burnout-Gefahr inklusive: