Trotz sinkender Ansteckungszahlen will der Bundesrat nichts von Lockerungen wissen – zu unsicher sei die Situation mit den neuen Viren-Varianten. In der Tat bleibe der Landesregierung derzeit wohl nichts anderes übrig, als die bestehenden Massnahmen laufend zu überprüfen und zu optimieren, sagt der Politgeograf Michael Hermann – auch wenn die Corona-Müdigkeit vor allem bei den Jungen zunehme.
SRF News: Shutdown bis mindestens Ende Februar, keine Lockerungen in Sicht. Wie kommt das bei der Bevölkerung an?
Michael Hermann: Seit Januar haben wir zwar keine neuen Daten erhoben, aber wir sehen einen interessanten Zeitverlauf: Während dem ersten Lockdown – und auch noch im Herbst – wollte die Bevölkerung eher strengere Massnahmen als die Politiker.
Bei der Haltung der Bevölkerung zu den Massnahmen spielen auch die persönlichen und psychischen Folgen eine Rolle.
In der letzten Januarbefragung sahen wir dann erstmals etwas anderes: Manche Massnahmen – wie das Homeoffice – werden stark mitgetragen, anderes – wie etwa die Schliessung der Läden oder mögliche Schulschliessungen – werden nicht mehr von der Mehrheit unterstützt. Die Bevölkerung hat also eine sehr differenzierte Haltung. Auch spielen dabei nicht nur der Gesundheitsschutz oder die Wirtschaft, sondern auch die persönlichen und psychischen Folgen eine Rolle.
Welche Einschränkungen belasten die Bevölkerung psychisch am stärksten?
Ein grosses Thema sind Schulschliessungen. In der ersten Welle hat das die Eltern stark getroffen, davor fürchten sich jetzt viele. Dank den derzeit geöffneten Schulen ist die Ausdauer zum Durchhalten in der Bevölkerung wohl etwas grösser, als wenn die Schulen geschlossen wären und die Kinder – neben der Arbeit im Homeoffice – zu Hause betreut werden müssten.
Immer mehr belastet die Leute aber auch die Einsamkeit, das Fehlen von Kontakten und von Spontaneität. Inzwischen sagt eine Mehrheit, sie leide unter der sozialen Isolation.
Ist die Bevölkerung im Vergleich zum vergangenen Sommer jetzt Corona-müder?
Im Sommer hatten viele das Gefühl, das Schlimmste sei vorbei, die Stimmung wurde besser. Doch inzwischen ist die Pandemie quasi zu einem chronischen Leiden geworden, das den Alltag stark prägt. Das zehrt an den Ressourcen der Leute.
Wäre es deshalb nicht umso wichtiger, dass der Bundesrat eine Ausstiegsperspektive präsentieren würde?
In Krisensituationen ist es am wichtigsten, dass man realistisch kommuniziert und keine falschen Hoffnungen weckt. Die Bevölkerung ist sehr gut über die Pandemie informiert. Sie rechnet nicht mehr mit einer schnellen Normalisierung der Lage, wie unsere Januar-Umfrage zeigte.
Eine Perspektive muss man der Bevölkerung in dem Sinn bieten, dass man sich bemüht, die Massnahmen möglichst zu optimieren: Dazu gehören etwa Massentests, um Schulschliessungen zu verhindern oder die stetige Überprüfung der Massnahmen. Man muss zeigen, dass man in jeder Situation versucht, das Beste daraus zu machen und nicht einfach ein starres Programm verfolgt.
Wie beurteilen Sie die Kommunikation des Bundesrats während der Pandemie?
Weil es in der ersten Welle sehr gut gelaufen ist, war der Bundesrat zunächst allzu optimistisch, doch daraus hat er gelernt – wenn auch sehr schmerzhaft. Ihm wurde klar, dass es keinen schweizerischen Sonderweg gibt. Jetzt sind wir auf einem realistischeren Pfad. Trotzdem ist das Vertrauen der Bevölkerung in den Bundesrat im Vergleich zum letzten Frühling tief – dies, weil er im Herbst viel Vertrauensbonus zerstört hat. Dieses Vertrauen muss er jetzt zuerst wieder aufbauen.
Das Gespräch führte Roger Aebli.