«Die Schweiz ergreift Partei», «Die Schweiz gibt ihre Neutralität auf». Das waren die weltweiten Schlagzeilen, als der Bundesrat vor einem Jahr verkündete, dass die Schweiz die EU-Sanktionen gegen Russland übernimmt.
Wann ist Neutralität glaubwürdig?
«Wir haben unsere Glaubwürdigkeit als neutrales Land schwer beschädigt», sagt Rechtsprofessor und SVP-Politiker Hans-Ueli Vogt angesichts der Reaktionen auf die Sanktionen. Er ist im Komitee der SVP-Neutralitätsinitiative, die per Verfassung verbieten will, einzelne Staaten ohne UNO-Beschluss zu sanktionieren.
Für Völkerrechtlerin Evelyne Schmid ist aber klar: «Die Sanktionen sind keine Verletzung der Neutralität, weder vom Neutralitätsrecht noch der Neutralitätspolitik her». Sanktionen seien bereits früher ergriffen worden. Warum also jetzt dieses Erstaunen? «Weil der Bundesrat nicht richtig kommunizierte», so FDP-Präsident Thierry Burkart.
Neutralität ist nur möglich, wenn andere Länder die Schweiz als neutral ansehen. Darin ist sich die Diskussionsrunde im Club einig. «Es herrscht jetzt eine enorme Kluft zwischen dem, was die Schweiz empfindet, und dem, was das Ausland wahrnimmt», konstatiert Historiker Jakob Tanner.
Eine Kluft, die sich auch in der Frage um die Wiederausfuhr von Schweizer Waffen an die Ukraine manifestiert. Für FDP-Präsident Thierry Burkart braucht es dazu nur ein neues Kriegsmaterialgesetz. Für Völkerrechtlerin Evelyne Schmid aber sind «indirekte Waffenlieferungen neutralitätsrechtlich nicht lupenrein».
Neutralität – Sicherheitsgarant oder überholtes Konzept?
Wer möchte schon an der Neutralität rütteln in einem Wahljahr? Die Neutralität geniesst laut ETH-Umfragen konstante Zustimmungswerte von weit über 90 Prozent. Und: «Die Neutralität ist auch ein durchaus egoistisches Konzept zum Schutz der Schweiz», so Thierry Burkart.
Trotzdem findet Staatswissenschaftler Christoph Frei: «Wir stehen mit der Neutralität heute ziemlich schräg da.» Die identitäre Funktion, welche Neutralität für die Schweiz habe, sei wichtig, aber könne nicht der alleinige Grund sein, um diese zu erhalten. Neutralität als Sicherheitsgarant sei überholt. «Die Freiheit, gut zu leben, wird schon lange nicht mehr von uns garantiert.» Diese würden unsere Nachbarstaaten und der Schutzschild der Nato bieten. Also sei es konsequent, einen Nato-Beitritt ernsthaft in Betracht zu ziehen.
Ein Vorschlag, der Hans-Ueli Vogt mit Blick auf die heutige Weltordnung Sorgen bereitet: «Wir gehen auf eine Spaltung zu. Sich einfach auf die Seite derer zu schlagen, von denen wir finden, dass sie recht haben», sei nicht der richtige Weg. «Bevor wir die Verbindung mit einer Hälfte der Welt kappen, bin ich lieber neutral und warte ab.»
Abwarten möchte Pazifist und GSoA-Mitbegründer Andreas Gross nicht, sondern die Neutralität aktiver interpretieren: «Man müsste viel engagierter helfen, die humanitäre Hilfe für die Ukraine mindestens verzehnfachen.»
Der Krieg in der Ukraine hat die Schweizer Neutralität als Selbstverständlichkeit ins Wanken gebracht. Sie bietet jedoch auch eine Chance, die Schweizer Neutralität neu zu definieren.