Keine Partys, weniger Präsenzunterricht in der Schule, mehr Zeit zu Hause: Die Corona-Massnahmen stellen den Alltag vieler Jugendlicher in der Schweiz auf den Kopf. Kriminologe Dirk Baier befürchtet, dass sich das kurzfristig positiv, langfristig aber negativ auf die Jugendkriminalität auswirken wird.
SRF News: Wie wirkt sich die Coronalage auf die Jugendkriminalität aus?
Dirk Baier: Die Jugendgewalt hat in den letzten fünf Jahren zugenommen. Mein Eindruck ist, dass die Pandemie-Situation nun eine Art Dämpfer gewesen ist. Das hat damit zu tun, dass Jugendliche zu Hause bleiben mussten, die Schule nicht besuchen konnten und damit auch Gelegenheiten reduziert worden sind, wo sich Jugendliche aggressiv gegenüberstehen können. Es sieht also zunächst einmal so aus, als wäre die Situation gut für die Jugendkriminalität. Langfristig wird uns aber ein Problem ins Haus stehen.
Welche langfristigen Probleme meinen Sie damit?
Die Ausbildungssituation verschärft sich, Berufsausbildungen und der Übergang für Jugendliche ins Berufsleben wird schwieriger. Wir wissen, dass derzeit häusliche Gewalt zunimmt. Das hinterlässt auch Spuren bei Jugendlichen. Die Bildschirmzeiten steigen deutlich, wenn die Jugendlichen mehr zu Hause sind. Das alles reduziert die Schulleistungen, und damit auch die Zukunftsoptionen. Das kann Einfluss auf das Gewaltverhalten haben.
Junge Menschen, die keine Zukunftsaussichten haben, werden früher oder später auf die schiefe Bahn geraten.
Gerade junge Menschen, die keine Zukunftsaussichten haben, werden früher oder später auf die schiefe Bahn geraten, weil sie versuchen, sich Dinge, die ihnen angeblich zustehen, anders zu besorgen. Das heisst, die Ursachen für Jugendkriminalität werden gerade ins Negative verändert. Das könnte sich in ein, zwei Jahren in einer steigenden Jugendkriminalität niederschlagen.
Ändert sich auch die Art der Delikte?
Grundsätzlich wird mehr Kriminalität in den digitalen Raum verlagert. Wir sehen Cyberkriminalität, Phishing und Betrugsdelikte und so weiter im Internet ansteigen. Aber da ist nicht der Jugendliche der typische Täter, denn es braucht gewisse Kompetenzen, die man sich aneignen muss, um solche Delikte zu begehen. Sie werden im Übrigen auch häufig vom Ausland aus ausgeführt. Es ist nicht der Bereich, der für die Jugendkriminalität der wesentliche in den nächsten Jahren ist, sondern da sind es weiterhin die traditionellen Delikte, Ladendiebstahl, Sachbeschädigung, Gewalt, die uns interessieren sollen, und wo wir wohl wieder Anstiege feststellen werden.
In der Schweiz setzt man bei jugendlichen Tätern mehr auf Kurse oder gemeinnützige Arbeit als auf harte Strafen. Funktioniert das?
Die Schweiz hat eine ganze Bandbreite an Massnahmen, um der Jugendkriminalität zu begegnen. In der Regel werden nicht scharfe Sanktionen herausgeholt, sondern es wird eher geschaut: Was braucht der junge Mensch, was fehlt ihm vielleicht in der Familie, was fehlt ihm im Umfeld? Das funktioniert sehr gut. Die Schweiz hat ein sehr tiefes Jugendkriminalitätsniveau, halb so hoch wie beispielsweise Deutschland.
Was könnte besser laufen?
Besser laufen könnte immer die Prävention, um zu verhindern, dass es überhaupt dazu kommt, dass junge Menschen mit Justiz und Polizei in Kontakt kommen. Und man sollte noch stärker beispielsweise das Thema innerfamiliäre Gewalt angehen. Da steht die Schweiz noch nicht so gut da, weil sie die Züchtigung in der Familie immer noch nicht verboten hat. Das heisst: An Schulen und in Familien kann noch mehr Prävention stattfinden.
Das Gespräch führte Susanne Stöckl.