Jil ist 27 Jahre alt, als sie eine Schwangerschaft abbricht. Mit dieser Entscheidung hat sie lange zu kämpfen, denn bis dahin stand sie Abtreibungen kritisch gegenüber. Immer wieder hörte sie abwertende Sätze darüber, die sich ihr eingeprägt haben. «Meine innere Stimme sagte mir: Man beendet keine Schwangerschaft. Du wirst mit dieser Trauer für deine Entscheidung bestraft. Du bist ein schlimmer Mensch und hast es nicht verdient, je wieder glücklich zu sein oder ein Kind zu haben.»
Bereuen tut sie die Entscheidung nicht, aber mit ihren Emotionen fühlt sie sich alleingelassen. Es gelingt ihr nicht, sich ihrem Umfeld zu öffnen – zu gross ist die Angst, verurteilt zu werden.
Ohne Stigmatisierung hätte ich bestimmt viel schneller Hilfe gesucht.
«Ohne Stigmatisierung hätte ich bestimmt viel schneller Hilfe gesucht. Ich hätte mich schneller geöffnet und nicht so eine Scham gehabt. Ich hätte mich in der Gesellschaft viel aufgehobener gefühlt», erzählt Jil.
Auch Ursula hat Stigmatisierung erlebt. Sie ist 45 Jahre alt, als sie ungewollt schwanger wird. Nach zwei Wunschkindern ist die Familienplanung für sie abgeschlossen. Noch einmal von vorne beginnen: unvorstellbar.
Der Termin beim Gynäkologen ist schnell gemacht. Doch statt sie neutral über den Abbruch zu informieren, muss sie sich moralische Sprüche anhören. «Ganz am Schluss hat er gesagt, wenn ich das Kind nicht als Gottesgeschenk annehmen könne, dann gebe es noch die Möglichkeit eines Abbruchs.»
Wenn ich das Kind nicht als Gottesgeschenk annehmen könne, dann gebe es noch die Möglichkeit eines Abbruchs.
Die Begegnung schockiert Ursula und sie erzählt es ihrem Umfeld. So erfährt sie, dass schon einige eine Abtreibung hatten: «Da habe ich gemerkt, dass jede Frau mit dieser Situation allein klarkommen muss.»
Das bestätigt auch Christine Sieber von der Dachorganisation Sexuelle Gesundheit Schweiz. Häufig sei es nicht die Entscheidung selbst, die Leiden verursache: «Es liegt viel mehr daran, wie Betroffene im Prozess behandelt werden. Ob die Menschen sie wertschätzen oder moralische Vorbehalte geltend machen», sagt Sieber.
Eine Frage der Gesundheit oder Strafsache
Der Schwangerschaftsabbruch ist bis heute im Strafgesetzbuch geregelt – und ist daher im Grundsatz eine Straftat. Ein Vorstoss von Grüner Seite, dies zu ändern, wurde während der Frühlingssession im Parlament diskutiert. Gefordert war, dass eine Abtreibung als Frage der Gesundheit und nicht als Strafsache betrachtet werden soll. Die Rechtskommission des Nationalrats lehnte den Vorstoss knapp ab.
Das produziere weiter Stigmatisierungen, erklärt Sieber: «Das ist ein Akt, den man im Strafgesetzbuch regeln muss. Das ist also verboten. Ich mache etwas Verbotenes. Die Frau macht etwas Verbotenes. Das hat einen Einfluss auf die Wahrnehmung.»
Gemeinsam gegen die Einsamkeit
Ursula hat sich entschieden, das Problem selbst anzupacken. 2022 gründet sie bei der Selbsthilfe Aargau eine Selbsthilfegruppe zum Thema – die erste in der Schweiz. Kommen dürfen alle – vor oder nach dem Abbruch und mit jedem Gefühl, das eine Abtreibung mit sich bringen kann.
Für manche Betroffene ist die Gruppe der erste Ort, an dem sie frei über ihre Erlebnisse sprechen können. «Wir wollen eine Anlaufstelle bieten. Für betroffene Frauen, die sich alleingelassen fühlen», sagt Ursula.
Die Selbsthilfegruppe in Aarau findet Anklang – und es werden mehr: Mittlerweile sind zwei weitere im Raum Winterthur und Basel im Aufbau.