Pensionskassengelder werden nicht nur aufgrund von Zahlen und Daten angelegt, sondern auch aufgrund von Geschichten. Damit wollen Analysten den Investoren Finanzprodukte zugänglich machen. Das sei problematisch, sagt Wirtschaftsethnologe Stefan Leins.
SRF News: Sie sagen, in der Finanzbranche hätten Geschichten eine grössere Macht als Zahlen und Daten, wie der Fall der Credit Suisse gerade zeigte. Wie meinen Sie das?
Stefan Leins: Das muss man präzisieren. Auch Geschichten müssen auf Zahlen basieren. Umgekehrt brauchen Zahlen aber auch eine Geschichte – sie müssen in ein Narrativ eingebunden werden, um sie Investoren oder Journalisten zugänglich zu machen. Was dabei auffällt: Die besten Analysten waren immer auch gute Storyteller.
Sie haben Ethnologe studiert und danach zwei Jahre lang bei einer Grossbank als Finanzanalyst gearbeitet. Was ist Ihnen dabei aufgefallen?
Ich bin mit der Erwartung angetreten, dass in der Abteilung in erster Linie gerechnet wird. Als ich in die Materie eingeführt wurde, redete man aber von Gefühlen – man müsse ein Gefühl für den Markt entwickeln, hiess es.
Man müsse ein Gefühl für den Markt entwickeln, hiess es.
Und wenn ein Unternehmen schlechte Zahlen auswies, konnten auch eine neue Marketingstrategie oder ein neuer CEO die Analysten zuversichtlich stimmen. Und schon war der Anfang einer Geschichte erzählt. Die grosse Frage war stets: Was ist die Story?
Ist das schlecht?
Das alleine nicht. Problematisch wird es aber, wenn Pensionskassengelder und überhaupt Investitionen vor allem aufgrund von Geschichten und nicht aufgrund von Analysen angelegt werden.
Wie funktionieren Finanzanalysten?
Ich habe sie als Menschen mit einem grossen Wissensdurst erlebt – schliesslich wollen sie die Marktentwicklung verstehen. Das Tragische ist, dass sie ständig scheitern, wenn sie sich auf das Rechnen alleine beschränken – damit lassen sich keine treffsicheren Prognosen machen.
Mit dem Rechnen allein lassen sich keine treffsicheren Prognosen machen.
Ich denke, Analystinnen und Analysten weichen auch deshalb auf Geschichten aus, um einen Umgang mit ihrem Scheitern zu finden und ihrem Tun einen Sinn zu geben.
Geschichten und Gerüchte lassen sich bestens über soziale Medien transportieren. Dann stimmt die Behauptung von CS und Finma, dass die Bank wegen der sozialen Medien kollabierte?
Sie spielten beim Untergang der Credit Suisse sicher eine grosse Rolle. Wenn die Verantwortlichen aber nach so vielen Skandalen behaupten, die sozialen Medien seien daran schuld, dann ist das eine Frechheit.
Wenn die CS-Verantwortlichen nach so vielen Skandalen behaupten, die sozialen Medien seien am Untergang schuld, dann ist das eine Frechheit.
Diese können nur Geschichten transportieren, die eine Grundlage haben: Die Leute glaubten aufgrund der vielen Skandale der Bank, dass sie schlecht geführt wird. Wenn in dieser Situation einer twittert, eine grosse Investmentbank stehe kurz vor der Pleite, dann können soziale Medien wie ein Brandbeschleuniger wirken.
Hätte sich die CS auch mit einer Gegengeschichte retten können?
In den Tagen vor der Ankündigung des Bundesrats, dass die UBS die CS übernimmt, war es wohl schon zu spät. Aber im Herbst, als die Kurse der CS fielen, hätte man sich schon überlegen können, eine Gegenerzählung zu prägen.
Ist dies je einmal gelungen?
Ja, ein gutes Beispiel ist die Rettung des Euros 2012. Der damalige Präsident der Europäischen Zentralbank, Mario Draghi, sagte, man werde alles tun, um den Euro zu retten – was immer es brauche («whatever it takes»). Das war ein starkes Signal an die Märkte.
Das Gespräch führte Janine Hosp.