Die Gewerkschaften fordern angesichts der gestiegenen Preise höhere Löhne für alle. Doch höhere Löhne verteuern auch die Produktion, womit Unternehmen die Produktpreise anheben könnten – was wiederum die Inflation antriebe. Einschätzungen zum Risiko einer Lohn-Preis-Spirale in der Schweiz von Wirtschaftshistoriker Tobias Straumann.
SRF News: Startet diese Lohn-Preis-Spirale unweigerlich, wenn Unternehmen den Angestellten die volle Teuerung ausgleichen?
Tobias Straumann: In der Schweiz startet dann noch keine Lohn-Preis-Spirale. Da darf man nicht übertreiben. Ein Teuerungsausgleich bei einem Kaufkraftverlust ist völlig anständig. Das Argument, die Lage könnte entgleiten, sticht nicht.
Warum nicht?
Im Moment beträgt die Inflation in der Schweiz zwei bis drei Prozent. Es ist die erste Lohnrunde, die sich an diese Inflation anpasst. Richtig gefährlich würde erst, wenn schon drei bis vier Lohnrunden vorüber sind und bei den Weltmarktpreisen immer noch keine Beruhigung absehbar wäre, etwa bei Energie oder Lebensmitteln.
Gefährlich würde erst, wenn nach drei bis vier Lohnrunden bei den Weltmarktpreisen immer noch keine Beruhigung absehbar wäre.
Im Ausland sieht es anders aus?
Ja, in den USA beispielsweise, wo die Löhne laufend angepasst werden, herrschen andere Verhältnisse. Da stiegen die Löhne 2021 mangels genügend Arbeitskräften überdurchschnittlich. Doch das hat sich beruhigt. In der Eurozone ist eine solche Entwicklung überhaupt nicht zu sehen. Da muss man jetzt – ähnlich wie in der Schweiz – abwarten, wie die Lohnverhandlungen im Herbst verlaufen.
Kommt es auch darauf an, wie stark die Löhne erhöht werden?
Auch darauf kommt es an, und es ist abhängig von der konjunkturellen Lage, von den Firmen und vom Produktivitätsfortschritt. Die Lohnerhöhungen sollten in der Regel nie über dem Produktivitätsfortschritt liegen. Diese Parameter spielen aber für den Teuerungsausgleich keine Rolle. Es kann nicht angehen, dass jetzt durch die Inflation die Reallöhne gesenkt werden.
Es kann nicht angehen, dass jetzt durch die Inflation die Reallöhne gesenkt werden.
Geht man besser von der aktuellen oder der erwarteten Inflation aus?
Das ist eine wichtige Frage. Ich würde vorsichtshalber immer von der eingetretenen Inflation ausgehen, aber aufmerksam bleiben. Falls die Inflation in der Schweiz in den nächsten Jahren dramatisch zunimmt, wären weitere Anpassungen vorzusehen. Da die Entwicklung im nächsten Jahr völlig unsicher ist, sollte dieser Spielraum nicht auf Vorrat verspielt werden.
Wäre es gefährlich, wenn die Gewerkschaften zum Teuerungsausgleich auch mehr Lohn fordern würden?
Nein. Aber es hängt von der Branche, den Unternehmen und den Regionen ab. In der Schweiz gibt es traditionellerweise eine gewisse Flexibilität innerhalb des Gesamtarbeitsvertrags. Eine generelle Lösung wie beim Teuerungsausgleich gibt es hier nicht.
Bei der Erdölkrise in den 1970er-Jahren stiegen die Preise stark. Welche Lehren lassen sich daraus ziehen?
Damals war die Lage anders: Der Arbeitsmarkt war seit den späten 1960er-Jahren völlig ausgetrocknet, was die Preis-Lohn-Spirale schon vor der Ölkrise in Gang setzte. Die Erwartungen passten sich an und überall im Westen ging man davon aus, dass Löhne wie auch Preise immer stärker steigen. Das ist heute nicht so: Vor Covid und dem Ukraine-Krieg gab es keine Lohn-Preis-Spirale.
Vor Covid und dem Ukraine-Krieg gab es keine Lohn-Preis-Spirale.
Können diese für die Entwicklung bedeutenden Erwartungen beeinflusst werden?
Auf jeden Fall: Man kann die Nachfrage durch geld- oder finanzpolitische Eingriffe bremsen, etwa die Zinsen erhöhen und in der Schweiz eine Aufwertung zulassen. Das würde sehr viel helfen, wie sich bereits in der Vergangenheit zeigte.
Das Gespräch führte Simone Hulliger.