Worum geht es? «So hohe Preissprünge wie jetzt hat es in Europa noch nie gegeben», hält Energieministerin Simonetta Sommaruga fest. Davon ist auch die Schweiz betroffen. Schuld daran ist auch die Art und Weise, wie der Strompreis in der EU bestimmt wird.
Warum bestimmt Europa den Schweizer Strompreis? Die Schweiz ist Teil des europäischen Strommarktes. Ein Zehntel des gesamten Stroms, der zwischen den Ländern Europas ausgetauscht wird, fliesst durch die Schweiz. Zwar deckt sie einen grossen Teil des Energiebedarfs selbst, doch zu Spitzenzeiten, vor allem im Winter, muss sich Strom aus dem EU-Ausland importieren – im Gegenzug exportiert die Schweiz vorwiegend im Sommer Strom aus Wasserkraft. «Der Strompreis in der Schweiz wird derzeit sehr stark durch Deutschland beeinflusst», erklärte der Geschäftsführer der Schweizerischen Energiestiftung, Nils Epprecht, gegenüber der «Tagesschau» von SRF.
Wie wird der Strompreis bestimmt? Mit Energie wird gehandelt. Die Preise gestalten sich einerseits nach Energieart (Wasserkraft, Atomkraft, Solarenergie etc.), dem Mix. Andererseits ist für den Preis massgebend, ob der Energieversorger selbst Strom produziert oder Energie am Markt kauft und weiterverkauft. In der Schweiz bezieht eine Mehrheit der Unternehmen einen Grossteil ihres Stroms vom Markt und ist darum stärker von den dort herrschenden Preisschwankungen betroffen. Ein weiterer Faktor ist der Zeitpunkt, an dem der Strom bezogen wird. Laut der Eidg. Elektrizitätskommission Elcom wurde für das Jahr 2023 nur etwa ein Drittel des Schweizer Energiebedarfs vor dem grossen Preisanstieg eingekauft. Und dann gibt es noch einen Faktor, der von Aussen – sprich der EU – auf den Strompreis in der Schweiz einwirkt: das Merit-Order-Prinzip.
Was ist Merit-Order? Gemäss der im EU-Strombinnenmarkt geltenden «Reihenfolge der Vorteilhaftigkeit» (Engl.: merit-order) wird die Einsatzreihenfolge der Kraftwerke auf einem Stromhandelsplatz bestimmt. Kraftwerke, die billig Strom produzieren können, werden zuerst herangezogen, um die Nachfrage zu decken. Danach werden so lange Kraftwerke mit höheren Grenzkosten zugeschaltet, bis die Nachfrage gedeckt ist. Den Strompreis bestimmt dann allerdings das zuletzt geschaltete und somit teuerste Kraftwerk. «Und das sind im Moment die teuren Gaskraftwerke in Deutschland», so Energiefachmann Epprecht.
Warum hat man Merit-Order eingeführt? Dieses Preisbildungssystem sollte ursprünglich einen Anreiz für Investitionen in erneuerbare Energien schaffen, wie Regina Betz, Leiterin des Center for Energy and the Environment der Zhaw, gegenüber SRF News erklärt. Denn wer unter dem Marktpreis produziert, kann Gewinn einfahren.
Damit wollte man Produzenten von Ökostrom begünstigen. Ein weiterer Vorteil: Bei geringer Nachfrage, reicht günstiger Strom – etwa aus Wasserkraft in der Schweiz oder aus Windkraft in der EU –, um diese zu decken. «Und nicht zuletzt spiegelt der Preis auch die Knappheit der Energie wider», so Betz. «Wir brauchen dieses Signal, um unseren Konsum einzuschränken.»
Was kann die Schweiz gegen Merit-Order tun? Da die Schweiz so stark vom europäischen Markt abhängt, ist sie auch abhängig davon, was die EU unternimmt. Tatsächlich laufen dort schon seit längerem Diskussionen für eine Abkehr oder Reform vom heutigen Preisbildungssystem.
Was sind die nächsten Schritte? Bei einem Sondertreffen am 9. September wollen sich die EU-Minister für Energie dem Thema annehmen. Dann sollen voraussichtlich auch die ersten Vorschläge der EU-Kommission besprochen werden. Etwas Konkreteres könnte EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen bei ihrer Rede zur Lage der Union am 14. September vorschlagen. Es ist auch noch offen, ob es um freiwillige oder verpflichtende Massnahmen gehen wird. Zu Beginn des nächsten Jahres will die Kommission zudem einen Vorschlag für eine tiefgreifendere, strukturelle Reform vorlegen. Dieser muss dann noch von den EU-Staaten und dem Europaparlament verhandelt werden – das dauert in der Regel mehrere Monate. Bis Verbraucher von einer EU-Reform etwas spüren, könnte es also noch dauern.