Es ist noch nicht so lange her, da erachtete Pat Burgener seine ADHS-Diagnose als Krankheit. Auch, weil man ihm das in seiner Jugend immer wieder eingetrichtert hatte. Dumm sei er. Nicht in der Lage, ruhig zu sitzen und zu lernen. Dieses Gefühl, nirgends reinzupassen, war «megaschwierig». Doch mittlerweile spricht er nicht mehr von einer Krankheit. Burgener bezeichnet ADHS als «Superpower».
Es ist krass, dass ich diese Gedanken hatte, aber zu dieser Zeit hat für mich alles einfach keinen Sinn gemacht.
Im neuen SRF-Format «Kehrseite – Abseits des Erfolgs» spricht der Snowboarder über sein bisheriges Leben, das wegen seiner ADHS-Diagnose von Höhen und Tiefen geprägt ist und erzählt, wie er einen Umgang mit dem ganzen Gefühls-Chaos gefunden hat. Das Gespräch findet in Lausanne statt. Auf dem Areal einer Schule, von der Burgener einst verwiesen wurde. Von Schulen geflogen ist er mehrfach. «Ich war ein Rebell», sagt Burgener.
Schon früh Suizidgedanken
Er habe schon früh bemerkt, dass er anders als die anderen sei. Mit 6 Jahren schon. «Aber ich konnte nicht sagen, was bei mir anders war.» Bald reihte die Familie Burgener Arztbesuch an Arztbesuch. Weil für Burgener sehr schnell alles äusserst belastend wurde. «Schon mit 7 oder 8 Jahren hatte ich Suizidgedanken. Ich lief über Brücken und fragte mich: Soll ich springen? Es ist krass, dass ich diese Gedanken hatte, aber zu dieser Zeit hat für mich alles einfach keinen Sinn gemacht. Ich habe mein Leben gehasst.»
Burgeners innere Dunkelheit gründete auch auf der Tatsache, dass er in den Augen vieler einen schlechten Einfluss auf sein Umfeld gehabt habe. «Alle Eltern meiner Kollegen sagten immer, dass man mir lieber fernbleiben solle.» Burgener fühlte sich damals wie eine stetig wachsende Flamme. «Und alle haben nun mal Angst vor dem Feuer.»
Auf dem Schulareal in Lausanne trifft Burgener auch seine frühere Lehrerin Anne-Lise Wahlen und seinen Schulfreund Charlie Bandack. Beide waren Burgener stets wohlgesinnt. Bandack war Burgeners engste Bezugsperson in jungen Jahren. Dank ihm hat er auch zum Snowboarden gefunden. Zur Welt der Freestyler, der Tricks, zu dieser alternativen Ausdrucksform.
Er war eindeutig nicht in der Lage, still zu sitzen, und das war nicht seine Schuld.
Wahlen war für Burgener stets eine der wenigen Lehrpersonen, die Verständnis für seine Situation aufbrachte. «Sie hat etwas in mir gesehen, was andere nicht gesehen haben», erinnert er sich. «Ich denke, ich wusste, dass er sich nicht absichtlich so verhalten hat. Er war eindeutig nicht in der Lage, still zu sitzen, und das war nicht seine Schuld. Wenn man das einmal verstanden hat, ist man toleranter», erzählt Wahlen.
Bewegung anstelle von Ritalin
Auch Ritalin war bei Burgener ein Thema. Aber seine Eltern sprachen sich dagegen aus. Sie wollten einen Weg ohne finden. Und sie fanden einen. Indem sie ihrem Sohn sehr, sehr viel Bewegung ermöglichten. Ob auf dem Snow- oder Skateboard oder mittels sonstiger Sportaktivitäten – auf diesem Weg konnte sich Burgener austoben. Und ausdrücken.
Mit Blick auf den Schulunterricht sagt Schulfreund Bandack: «Vielleicht sollte man diesen mit mehr körperlichen Aktivitäten kombinieren und mit Aktivitäten, die es dem Kind oder der Person ermöglichen, sich auf andere Weise zu entwickeln. Denn ich denke, es geht nicht nur um die intellektuelle Entwicklung aus schulischer Sicht, sondern um mehr.»
Ich habe so viel Energie. Dank dieser kann ich auch viel mehr anpacken als andere.
Das Thema ADHS ist bis heute äusserst präsent im Leben von Burgener. Nur erachtet er seine vermeintliche Störung heute als Stärke. Mittlerweile weiss er, dass die zusätzliche Energie ein Geschenk ist. «Ich habe so viel Energie. Dank dieser kann ich auch viel mehr anpacken als andere.»
Ein kleiner Beweis: Am Tag des mehrstündigen Interviewtermins wird Burgener später noch weiterziehen und in Zermatt ein Konzert spielen. Erschöpfung scheint ihm fremd. «Wenn du lernst, mit diesen Gefühlen und dieser Energie umzugehen, entstehen ganz schöne Dinge», so Burgener. Er erzählt seine Geschichte auch deshalb so ausführlich, weil er Menschen mit ähnlichen Herausforderungen inspirieren will, ihnen Mut machen will.