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Waffenstillstandsforschung Ruhe, aber kein Frieden – die dunkle Seite von Waffenstillständen

Waffenstillstände stoppen die Gewalt, sind aber nicht immer friedlich. Konfliktparteien nutzen sie auch, um aufzurüsten.

Friedensverträge – das war gestern. Viele Kriege enden heute nicht mehr mit einem Friedensschluss, sondern mit einem Waffenstillstand. Denn der Widerstand von Konfliktparteien gegenüber umfassenden politischen Lösungen hat in den vergangenen Jahren weltweit zugenommen.

Es fehlt das Vertrauen, sagt Siri Rustad vom Friedensforschungsinstitut PRIO in Oslo. Am Vertrauen fehle es, weil die Konflikte immer komplexer würden. Oft stehen sich mehrere Parteien gegenüber – verschiedene Milizen zum Beispiel, im Hintergrund unterstützt von Staaten mit eigenen Interessen.

Mit steigender Komplexität sinkt das Vertrauen

Vertrauen aufzubauen in zunehmend komplexen Krisen, ist schwierig. Was schwer durchschaubar ist, macht misstrauisch. Daher liegt der Fokus von Mediatorinnen und Vermittlern beim Friedensaufbau heute vor allem auf Waffenstillständen. Ziel ist es, die Gewalt zu stoppen.

Regeln des Chaos: die Daten zu 109 Bürgerkriegen

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Warum legen Konfliktparteien ihre Waffen nieder? Diese Frage stellte sich ein internationales Forschungsteam mit Schweizer Beteiligung. Die Forschenden untersuchten die Bürgerkriege zwischen 1989 und 2020 – im Ganzen 109 Bürgerkriege in 66 Ländern.

Die wichtigsten Resultate:

  • Konfliktparteien sind in besonders blutigen Monaten eher zu einem Waffenstillstand bereit.
  • Im ersten Monat eines Konflikts kommt es häufig zu einem Waffenstillstand. Danach dauert es im Schnitt vier Jahre bis die Chancen für den Abschluss eines Waffenstillstands wieder steigen.
  • Der Sturz oder die Abwahl der Regierung während eines Bürgerkriegs erhöht die Wahrscheinlichkeit eines Waffenstillstands.
  • Konfliktparteien willigen eher in einen Waffenstillstand ein, wenn sie dafür eine politische Rechtfertigung haben – zum Beispiel, wenn sie ein Mediationsangebot einer vermittelnden Partei erhalten oder religiöse Feiertage anstehen.
  • Werden Konfliktparteien mit Truppen, Waffen oder Geld unterstützt, sind sie weniger bereit zu einem Waffenstillstand.

Aber Waffenstillstände sind nicht a priori friedlich. Sie haben auch eine dunkle Seite: Kriegsparteien nutzen sie häufig, um sich in eine bessere Position zu bringen. Sie rüsten auf, gruppieren sich neu, rekrutieren Kämpfer und festigen ihre Herrschaft in eroberten Gebieten.

Die dunkle Seite des Waffenstillstands

So wird «Peace Building» zum Risiko und aus einer vertrauensfördernden Massnahme eine vertrauensschädigende Aktion. Das wissen auch die Konfliktparteien.

Auch deshalb würden heute im Verhältnis weniger Waffenstillstandsabkommen geschlossen als zu irgendeinem anderen Zeitpunkt in den vergangenen 30 Jahren, sagt Waffenstillstandsforscherin Siri Rustad.

Die Waffenstillstandsvereinbarung zwischen Israel und der Hamas

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Vollbeladener Eselskarren neben vollbeladenen Autos mit weiteren Flüchtlingen
Legende: Vertriebene Palästinenser Ende Januar auf dem Weg zurück in den Norden des Gazastreifens imago images / APAimages

Nach fünfzehn Monaten Krieg haben sich Hamas und Israel am 15. Januar 2025 auf einen Waffenstillstand und Austausch von Geiseln und Gefangenen geeinigt. Der Waffenstillstand ist vier Tage später, am 19. Januar, in Kraft getreten. Das Abkommen ist fragil.

In der ersten von drei geplanten Phasen soll die Hamas 33 Geiseln freilassen, die sie im Oktober 2023 genommen hat. Israel lässt zweitausend palästinensische Gefangene frei und zieht schrittweise Truppen aus dem Gazastreifen ab, um den Vertriebenen die Rückkehr zu ermöglichen. Das Abkommen soll auch die Menge der humanitären Hilfe, die nach Gaza gelangt, deutlich erhöhen.

Der vollständige Text des Abkommens und seine Anhänge wurden noch nicht veröffentlicht, aber er soll praktisch identisch mit dem Rahmenwerk sein, das der damalige US-Präsident Joe Biden am 27. Mai 2024 vorgelegt hat.

Das zeigen die Daten der noch jungen Waffenstillstandsforschung und sie zeigen auch: Die Tage vor dem Inkrafttreten eines Waffenstillstands sind oft besonders blutig. Die Parteien eskalieren, um vor der Ruhe noch maximale Gewinne zu erzielen – so geschehen auch im Gazastreifen.

Paradoxe Interventionen und kleinste Schritte führen weit

Konfliktmediatorinnen nutzen daher neue Wege zur Vertrauensbildung. Eine Strategie ist es, eben gerade nicht über einen Waffenstillstand zu sprechen, stattdessen auf politische Gespräche zu setzen, während weitergekämpft wird. Das ist für Kriegsführer leichter zu akzeptieren als ein Waffenstillstand, der ihnen als Schwäche ausgelegt werden könnte.

Im Kleinen zu beginnen ist ein weiterer Ansatz, um Gewalt einzudämmen. Abseits umfassender politischer Verhandlungen. Zeitlich und lokal begrenzt. Das können kurze Feuerpausen sein: an Markttagen, an religiösen Feiertagen oder wenn Hilfslieferungen ankommen. Massnahmen, abgestimmt auf die Bedürfnisse der Zivilbevölkerung und für militärische Zwecke uninteressant.

Gesetzmässigkeiten in gesetzlosen Zeiten

In fast allen Kriegen der letzten Jahrzehnte stellten die Parteien das Feuer zumindest zeitweise ein. Das bestätigt auch der erste umfassende Datensatz zu den Bürgerkriegen der letzten 30 Jahre, den Siri Rustad vom Osloer Friedensinstitut PRIO zusammen mit ihren Kolleginnen vom Center for Security Studies an der ETH Zürich zusammengetragen hat.

Israel gehört – neben Sudan, Indien, den Philippinen und Syrien – zu den Ländern mit den meisten Waffenstillständen. Von 1989 bis 2020 hat Israel 103 Waffenstillstände geschlossen. Der aktuelle wird kaum der letzte sein.

Echo der Zeit, 24.01.2025, 18:00 Uhr

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