Die Verhandlungen zwischen Israel und der Hamas sind festgefahren. Noch immer werden Israelis von der Hamas in Gaza als Geiseln gehalten. Wie kann man in einer solchen Situation verhandeln? Der Geheimdienstexperte Gerhard Conrad ordnet im «Tagesgespräch» ein.
SRF: In Ihrem Buch «Nichtwissen ist tödlich» schreiben Sie, dass die israelische Regierung die Möglichkeit gehabt hätte, den Angriff der Hamas zu verhindern. Es habe Warnsignale gegeben. Was wussten die Geheimdienste am 7. Oktober?
Gerhard Conrad: Inzwischen gibt es noch mehr Lecks als zum Zeitpunkt der Veröffentlichung meines Buches. Ohne ein endgültiges Urteil zu fällen: Man weiss heute, dass es eine Reihe von Informationen gegeben hat, die aber in Israel fachlich und politisch abgelehnt wurden. So haben die Hamas etwa einen Kibbuz nachgebaut, um zu üben, wie man den Eingang überwindet und wie systematisch Häuserkämpfe durchführt werden.
Die Frage ist, inwieweit die Hisbollah oder der Iran dabei geholfen haben.
Was man vielleicht tatsächlich übersehen hat, ist, wo die Hamas gelernt hat, die Kommunikation des Gegners, in diesem Fall die Kommunikation zwischen den Militärposten, zu unterdrücken. Das lernt man nicht im Selbststudium. Die Frage ist, inwieweit die Hisbollah oder der Iran dabei geholfen haben.
Das heisst, die israelische Regierung hat der Hamas einen solchen Angriff nicht zugetraut?
Das Lagebild, wie es im Fachjargon heisst, sprach gegen einen derart ambitionierten und bekanntermassen professionellen militärischen Angriff. Die Hamas hat sich am 7. Oktober 2023 als eine intelligente, militärisch und systematisch arbeitende Truppe erwiesen. Das hat man in dieser Form offensichtlich nicht für möglich gehalten.
Rund 100 Geiseln befinden sich noch immer in der Gewalt der Hamas. Sie haben Erfahrungen als Vermittler, sie wurden nach der Entführung des israelischen Soldaten Gilad Schalit 2006 durch die Hamas eingesetzt. Wie liefen die Verhandlungen ab?
Ich reiste von Israel aus in einem gepanzerten Fahrzeug nach Gaza und wurde dort von bewaffneten Begleitern der Hamas empfangen. Sie brachten mich auf Umwegen zu einem Wohnhaus, wo mich der damalige Militärchef Ahmed al-Dschabari und der damalige politische Leiter Mahmud az-Zahar empfingen. Wir sassen am Küchentisch, wälzten Papiere und feilschten. Nur dass es hier nicht um Teppiche ging, sondern um das Leben eines Menschen.
Aktuell geht es nicht nur um eine Geisel, sondern um rund 100. Was ist anders an der heutigen Situation?
Damals wurde eine israelische Geisel gegen 1027 Palästinenser ausgetauscht. Ich hielt seinerzeit wie heute nicht viel von diesem Deal. Die Hamas wollte ihre Helden aus den 90er-Jahren zurück, die aus israelischer Sicht Terroristen waren und viele Menschenleben auf dem Gewissen hatten. Man versuchte, diese «unmöglichen Kandidaten», wie sie genannt wurden, so lange wie möglich aus den Verhandlungen herauszuhalten. Am Ende musste sich Netanjahu, wenn man so will, erpressen lassen.
Auf beiden Seiten gibt es keinen Raum für Kompromisse.
Heute sind die Verhandlungen festgefahren. Wir haben die Situation, dass die militärische Struktur der Hamas weitgehend zerstört ist und israelische Truppen in grossen Teilen Gazas stehen. Es geht für die Hamas nicht mehr um die Gleichung Geiseln gegen Palästinenser, sondern Geiseln gegen eine Bestandsgarantie in Gaza. Auf beiden Seiten gibt es keinen Raum für Kompromisse.
Aus dem Tagesgespräch mit Simone Hulliger, Mitarbeit Géraldine Jäggi.