Vor Familie Wilhelmis Haus etwas ausserhalb von Riggisberg tobt die Schneeballschlacht: Die Kinder Dima und Viktoria sind soeben aus der Schule zurückgekehrt und bewerfen Mutter Alona mit Schnee. Dazwischen tobt Nala, der Hund von Wilhelmis herum und bellt.
Zwischen zwei Schneeballattacken sagt Alona: «Sie haben sich so gefreut heute Morgen. Sie sind extra um 7 Uhr aufgestanden, damit sie schon vor der Schule im Schnee spielen konnten.»
Meine Kinder wollen gar nicht mehr Online-Schule auf ukrainisch machen, es gefällt ihnen hier besser.
Die siebenjährige Viktoria weiss auch schon genau, was sie am Nachmittag machen will: «Mit dem Bruder im Schnee spielen». Sie sagt es auf Deutsch, stockend noch, doch sie macht grosse Fortschritte. Seit einem halben Jahr gehen sie und ihr Bruder hier zur Schule. «Sie fühlen sich sehr wohl», sagt Alona und fügt an: «Sie wollen gar nicht mehr Online-Schule auf Ukrainisch machen, es gefällt ihnen hier besser.»
Kein Wasser, kein Licht, keine Wärme
Drinnen am langen Holztisch in der Wohnküche schöpft Christine Wilhelmi Kürbissuppe. Alle essen Zmittag, wärmen sich auf. Kein Problem in Riggisberg, aber ein grosses in der Ukraine: Alonas Mann Maxim, der Vater von Dima und Viktoria, ist immer noch in ihrer Heimat Saporischja, der heftig umkämpften Stadt mit dem Atomkraftwerk in der Nähe.
Immer wieder muss er aus der Wohnung im siebten Stock vor den Raketen in den Keller flüchten. Alona sagt: «Im Moment versuchen die Russen, die Infrastruktur zu zerstören, so dass die Menschen ohne Wärme, Wasser und Licht sind.» Wenn möglich, telefoniert sie jeden Tag mit ihm – doch beim letzten Raketenangriff seien auch die Telefonleitungen und das Internet zeitweise zusammengebrochen.
Keine andere Wahl
Die Sorge um den Mann ist das Eine, die Sorge um die Familie das Andere – Seit kurzem putzt die Bankerin einmal pro Woche auf einer Grossbaustelle in der Nähe die Container der Bauarbeiter – ein Temporärjob. Das Geld reicht aber immer noch hinten und vorne nicht. Immer wieder bewirbt sie sich für weitere Stellen, doch bis jetzt ohne Erfolg.
Wie schafft sie es, die Hoffnung nicht zu verlieren? Sie seufzt tief und sagt dann: «Es ist kompliziert.... ich muss. Ich habe keine andere Wahl, weil meine Kinder und meine Mutter von mir abhängig sind.»
Ich habe keine andere Wahl, weil meine Kinder und meine Mutter von mir abhängig sind.
«Hut ab vor Alona», sagt Christine Wilhelmi, die zusammen mit Mann Rolf seit neun Monaten ihr Haus und auch ihr Leben mit der ukrainischen Familie teilt. «Wir sind wie eine WG geworden.» Jeder würde sein eigenes Ding machen. «Aber wenn Alona Hilfe braucht, dann weiss sie, dass sie jederzeit zu uns kommen kann.»
Der Blick zurück auf ein bewegtes Jahr
Christine Wilhelmi lässt das Jahr Revue passieren. «Es gab viel Positives, auch viel Schweres. Wir mussten immer wieder aufeinander zugehen. Aber das Positive überwiegt absolut.»
Sie und ihr Mann Rolf würden rückblickend genau gleich handeln und wollen auch weitere Menschen dazu ermuntern, Kriegs-Flüchtlinge aus der Ukraine bei sich aufzunehmen. «Es ist eine enorm bereichernde Erfahrung.» Alona und ihre Familie werden länger in Riggisberg bleiben als zuerst gedacht.
Es ist eine enorm bereichernde Erfahrung.
Als Nächstes steht das gemeinsame Weihnachtsfest an. Eigentlich würde ihre Familie Weihnachten in der Ukraine erst am 6. Januar feiern – wie in Russland – doch in diesem Jahr ist sowieso alles anders. Alona sagt: «Russland hat uns angegriffen. Deshalb entfernt sich die Ukraine von der russischen Kirche. Und deshalb feiern wir ab diesem Jahr Weihnachten auch im Dezember, wie hier.»
Weihnachten wird laut
So feiern Alona, Dima, Viktoria und Grossmutter Natalja bereits am Heiligabend, mit Christine und Rolf – ihren vier erwachsenen Kindern, den Partnern und den Grosskindern, rund 20 Personen. «Wir stellen einen grossen Tisch auf», sagt Christine Wilhelmi, lacht und fügt an: «Weihnachten ist immer laut bei uns.»
In diesem Jahr sitzen nun noch vier Personen mehr am Tisch. Auch sie werden kochen und so einen Teil beitragen. Ein ganz besonderes Weihnachtsfest in dieser zufällig entstandenen WG – die für die vier Flüchtlinge aus Saporischja zu einer Ersatzfamilie geworden ist.