Alle zwei Minuten rattert ein neuer Zug in den Hauptbahnhof Churchgate im Süden von Mumbai und versorgt die indische Wirtschaftsmetropole mit ihrer wichtigsten Ressource: Arbeitskräften.
Die meisten pendeln mit dem Zug, denn die Strassen der Stadt sind notorisch verstopft. Pünktlich kommt man nur mit den «Local», wie die Züge genannt werden, zur Arbeit.
Der Steinboden der Churchgate-Station ist glatt poliert von den Abermillionen von Sandalen, die über ihn hinwegschleifen. Nach 18 Uhr geht es hier zu und her wie in einem Bienenhaus. Jeder will nur noch eines, Richtung Norden, nach Hause fahren. Auch ich steige ein, nehme den «Local» Richtung Bandra.
Nicht aus dem Zug lehnen
Die Fahrt geht erst durch den historischen Teil Bombays wie die Stadt bis 1995 hiess, vorbei an britischen Kolonialbauten, Art-déco-Häusern, für die kürzlich Mumbai das UNESCO-Kultursiegel erhielt, und der Meerespromenade Marine Drive. Das Tempo ist gemächlich.
Die Stationen ziehen vorbei, Marine Lines, Charni Road, Mumbai Central. Immer wieder erklingt die Ermahnung durch den Lautsprecher, nicht aus dem Zug zu lehnen. Denn die Zugtüren stehen stets offen.
Tote bei Massenpanik
Doch die Pendler hören das schon gar nicht mehr. Sie geniessen den feuchtwarmen Fahrtwind und stehen in den Türen.
«Es ist zu heiss um drinnen zu stehen», sagt ein junger Pendler und streift sich immer wieder durch das vom Wind geföhnte Haar. Doch auch er weiss, es ist gefährlich. Unfälle sind an der Tagesordnung.
An der Station Elphinstone Road starben letzten September bei einer Massenpanik über 30 Menschen. Der Betrieb war kurzzeitig gestört, heute mag sich niemand mehr daran erinnern. Eine Verdrängungstaktik, die oft zynisch als «the spirit of Bombay» bezeichnet wird. Es muss weitergehen.
Der Kampf beim Aussteigen
Der Zug biegt nun ab. Weg vom Meer, hinein in das Herz der Stadt, die Business-Viertel Lower Parel und Dadar. Keine Kolonialbauten sondern riesige Glasfassaden ziehen an meinem Zugfester vorbei.
Noch bevor der Zug hält, springen waghalsig Männer auf um sich einen Sitzplatz zu ergattern. Wer hier raus will müsste theoretisch schon abgesprungen sein. Der Zug füllt sich in Sekunden, und plötzlich steht man zwischen Ellbogen und Hinterköpfen.
Manchmal klappt es auch nicht mit Aussteigen. Deshalb formieren sich vor jeder Station kleine Gruppen, die sich dann gemeinsam in Richtung Ausgang quetschen. Eine Gratismassage nennen das die Pendler und grinsen.
Neue Dimension von Dichtestress
«Einmal rief mich meine Schwester auf dem Mobiltelefon an als ich im Zug war, doch ich konnte nicht antworten», sagt ein Pendler. «Keine Chance in die Hosentasche zu greifen, so voll kann es werden.»
300 Personen passen offiziell in einen Wagen. Das ist schon sehr viel, doch können gut und gerne auch anderthalbmal so viele mitreisen. Dichtestress hat eine ganz andere Dimension in Mumbai.
Drei Stunden pro Tag im «Local»
Der Grund warum so viele diese Tortur auf sich nehmen, liegt auf der Hand: der Preis. «Eine Taxifahrt kostet mich etwa 700 Rupien, sagt dieser Mann.» Der Zug kostet nur 10 Rupien, keine 20 Rappen. Und so schaukelt man gemeinsam über den Mahim-Creek, den Abwasserkanal von Mumbai in Richtung Vorstadt.
Bandra wird auch die Königin der Vorstädte genannt, weil hier viele Bollywoodstars wohnen. Hier verlasse auch ich den Zug.
Doch für Millionen von Pendler geht die Reise noch lange weiter durch die Vorstadt, denn die wenigsten können sich die hohen Mietpreise im Stadtzentrum leisten. Also nehmen sie die «Local», zwei bis drei Stunden, jeden Tag.
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kultur kompakt, 19.7.2018, 8.20 Uhr