Wir haben ein Ritual, Tiflis und ich. Bei jedem Besuch steige, nein, fahre ich dieser Stadt aufs Dach. Und sie? Begrüsst mich stets mit einem neuen Sound.
Der Klangteppich der georgischen Hauptstadt ist ein fliegender. Unsichtbar schwebt er über der schönsten aller Kaukasusmetropolen. Auf dem heiligen Berg, dem Mtazminda, kommt man ihm am nächsten.
Mit einem sanften «Tüt-a-Tüt» schliessen sich die Türen der rotlackierten Standseilbahn. Sie bringt mich auf den Hausberg der Stadt. Langsam gleitet das Bähnlein über seine Flanke, rumpelt vorbei am Pantheon. Hier sind sie alle begraben, die grossen Heroen der georgischen Literatur und die erste Frau von Josef Wissarionowitsch Stalin.
Oben, in 770 Metern Höhe, weht ein laues Lüftchen. Es verwebt die Geräusche von Georgiens Hauptstadt zu einer eigenartigen Sinfonie.
Sphärischer Gesang als Ouvertüre
Dunkel ruft der Ton der Glocken des Sameba-Doms an einem heissen Nachmittag. Ihr Klang mischt sich mit einer flirrenden Hitze, die die bunten Häuser unter mir wie ein Spiegelbild auf leicht bewegtem Wasser zittern lässt.
Ich schärfe meine Sinne. Kaum schliesse ich die Augen, spüre ich schon den Klangteppich. In sanften Wellen gleitet er an meinen Ohren vorüber. Ich höre die Priester von Georgiens grösster Kirche singen. Plötzlich höre ich den sphärischen Gesang eines Chors von Engeln über der Stadt.
Links von mir nehme ich andere Geräusche wahr. Ein unbestimmtes aber fast rhythmisches Klick und Klack, und Klack und Klick, dem bald darauf ein rasches «Klock-Klock-Klock» folgt.
Das müssen sie sein – die Nardispieler. Sie sitzen da unten unweit des Doms, in schattigen Hauseingängen und zugigen Torbögen. Sie werfen ihre Würfel auf zerkratzte uralte Spielbretter, schweigend, in verschwitzten T-Shirts als ob jedes Wort zu viel sei in dieser Hitze.
Der Kreislauf des Lebens als Glockenspiel
Der Hauptsatz beginnt mit zarten Noten. Mit Klängen, wie von einer Spieluhr aus Grossmutters Zeiten. Ich öffne die Augen. Suchend fällt mein Blick vom Mtazminda-Berg in das Spinnennetz der Strassen. Ich ahne ihn mehr, als das ich ihn sehe: den rothaarigen Engel. Zu jeder vollen Stunde erscheint er auf dem Balkon des schiefen, verschachtelten Turms von Reso Gabriadses Puppentheater und schlägt mit einem Hammer auf ein kleines Glöckchen.
Ich kann hören wie sich jetzt die Kinder versammeln. Ahne, wie sie auf die Figuren zeigen, die unter der grossen Uhr zu wandern beginnen: ein Paar, das heiratet, einen Sohn bekommt, älter wird und stirbt. Am Ende der Sohn – als junger Mann bei seiner eigenen Hochzeit. Der Kreislauf des Lebens vor staunenden Kinderaugen.
Am Ende ein Rondo aus Wassergespinsten
Der Wind trägt einen Ruf an mein Ohr. «Matzoni!, Matzoni! – gellt es herauf. Ein Paar geht durch eine Strasse unten am Berg. Der Mann legt die Hände wie einen Trichter an den Mund: «Matzoni! Matzoni». Die Frau aber schleppt gebeugt die schweren Taschen. Darin Gläser verborgen die Gläser mit dem leckeren Jogurt, den sie hier «Matzoni» nennen. Wer nur genug von ihm esse, glauben die Georgier, dem ist ein langes Leben beschieden.
Langsam geht die Sonne unter, taucht den Ryke-Park mit seiner schlangenartigen Brücke und Springbrunnen in kitschiges Licht. Als die Dunkelheit einsetzt, beginnen über die Länge von einem Kilometer Fontänen zu tanzen, beleuchtet von je einem einzelnen Spot – Tiflis beendet den Tag mit computergesteuerte Wasserspielen. Ein grandioses Rondo – bevor die Vorstellung endet und es mit dem Bähnlein wieder hinuntergeht ins Gewirr der Gassen dieser uralten Stadt.