Hin und wieder höre ich auf dem Weg zur Bäckerei ein vertrautes Geräusch. Früher nahm ich es kaum wahr, da es zum Sound meines Wohnquartiers gehörte. Heute, da es seltener geworden ist, fällt es plötzlich auf: das Starten oder Landen eines Flugzeugs.
Es gibt also noch Leute, die fliegen irgendwohin, denke ich etwas melancholisch. In ferne Länder, in fremde Welten, um neue Orte zu entdecken. Sie bestellen Gerichte, die sie nicht kennen. Werden beklaut, steigen in den falschen Bus ein. Führen Gespräche über dies und das mit Menschen, die sie nicht kennen. Oder nicht verstehen.
Das Fenster zum Hof in Chiang Mai
Eine schwierige Zeit für alle, die solche Erlebnisse vermissen. Was tun, um den Reise-Entzug zu mildern? Momentan findet ja fast unser ganzes Leben online statt, warum also nicht gleich zwischen Team-Meetings und virtuellen Kaffeepausen eine virtuelle Reise unternehmen?
Window-swap zum Beispiel öffnet mir per Klick ein zufälliges Fenster irgendwo auf der Welt. Ich sehe einen kleinen Hof mit Garten und vor allem: grün. Gräser. Sträucher. Bäume. Sogar der Himmel scheint grün. Vögel zwitschern. Ich bin in Chiang Mai, Thailand gelandet. Passieren tut nichts.
Einen Klick später schaue ich aus dem Fenster von Eliesha und Joel in Melbourne auf ein kleines Postbüro. Auf der Strasse fährt ein Kind auf einem Trottinett vorbei. Der Geräuschkulisse nach ist jemand beim Kochen. Die Aufnahmen scheinen aufgezeichnet und wiederholen sich nach einer Weile.
Auf der Seite «Drive and Listen» fahre ich durch die Strassen einer Stadt meiner Wahl und kann live lokale Radiosender hören. Momentan: London. Sender: Kiss 100, es läuft Billie Eilish, «Therefore I Am (Remix)». Feierabendverkehr. Stau. Das hat was.
Trotzdem mein ernüchterndes Fazit: Ich habe neue Orte gesehen und gehört. Ich war quasi «da». Aber ich habe nichts erlebt. Habe keine Erinnerungen. Keine Emotionen. Schlimmer noch: Der Drang, diese Orte wirklich zu besuchen, nimmt sogar noch zu. Menschen mit akutem Fernweh (ich habe ausnahmsweise gerade keines) sollten also vorsichtig sein.
Meditative Spaziergänge in Tokyo
Besser gefallen haben mir Reisevideos, etwa von Vlogger Kraig Adams. Er wandert in den schönsten Nationalparks der Welt – unkommentiert, langsam, und gut gefilmt.
Ein anderer Youtuber namens Rambalac filmt seine Spaziergänge in den belebten, nächtlichen Strassen Tokios. Slow-TV. Meditative Stimmung stellt sich ein. Ein gutes Gefühl, aber keine Alternative zu einer Reise.
Vielleicht steigert etwas mehr Action den Erlebnisfaktor? Mit Hilfe eines «Google Cardboards», eines speziellen Kartons vor den Augen, der aus meinem Iphone eine VR-Brille macht, reise ich in den Yosemite-Nationalpark und klettere mit Alex Honnold an der 1000-Meter-Granitwand des El Capitan. Ich schaue virtuell nach oben und unten.
Wow, das ist richtig hoch. Mit flauem Gefühl sehe ich zu, wie Honnold den Rissen und Felsstrukturen entlang klettert wie ein Tänzer. Eine falsche Bewegung und er wäre tot (ich zum Glück nicht). Definitiv ein Erlebnis. Aber halt kein echtes.
Gibt es virtuelle Erlebnisse?
Nicht überraschend darum meine nächste Erkenntnis, die mich an ein Zitat des japanischen Animationskünstler Hayao Miyazaki erinnert: «Warum im Weltraum nach fremden Welten suchen, wenn wir vor der Haustür in den Mikrokosmos der Insekten eintauchen können?»
Seit Kurzem steht der alte Feldstecher meines Vaters auf meinem Bürotisch. Auf dem Ahornbaum vor meinem Fenster suchen Vögel etwas zu knabbern und lassen sich dabei gut beobachten: Meisen, Tauben, Amseln, Elstern und einmal sogar gleich zwei Eichelhäher.
Und kürzlich habe ich unweit von unserer Wohnung einen kleinen Weg entdeckt, der mir bis jetzt nie aufgefallen war. Dort steht ein wunderschöner, hoher Nadelbaum, von dem ich immer noch nicht weiss, um welche Art es sich genau handelt.
Eichelhäher vor meinem Stadtfenster, unbekannte Nadelbäume. Davon habe ich meinen Freunden erzählt. Von meinen virtuellen Ausflügen nach Chiang Mai und London nicht.