Ich hatte mich die ganze Woche auf die Uraufführung von Sofia Gubaidulinas «Der Zorn Gottes» gefreut. Freitagabend, 6. November, Livestream vom Festival Wien Modern.
Doch dann schlägt der Alltag zu: Der Risotto brennt an, das Kind bleibt hellwach. Und wo verdammt nochmal sind die guten Kopfhörer?
Glücklicherweise ist der Stream geduldig wie Papier. Er lässt sich auch später starten. Das ORF Radio-Symphonieorchester wartet, bis ich fertiggewurschtelt habe.
Mails, Pizza und ein verpufftes Erlebnis
Als ich endlich auf dem Sofa sitze, setzt der Bratschist Antoine Tamesti zu einem langem Solo an. Er spielt vor dem leeren Saal des Wiener Musikvereins. Leer ist aber auch mein Magen und die Geister des Tages hören nicht auf, mich zu quälen.
Ich bestelle Pizza und schreibe schnell noch ein Mail. Sollte mir etwas entgehen, kann ich ja jederzeit zurückspulen. Als ich dann endlich in das Konzert eintauche, wird die Uraufführung in den Kommentarspalten auf Facebook bereits gefeiert und die Musikerinnen und Musiker in Wien sind längst auf dem Nachhauseweg. Das Live-Erlebnis ist gänzlich verpufft.
Das Streaming zum Date erklären
Ich nehme mir vor, es beim nächsten Mal besser zu machen. Das Musiktheater «Abschied» vom Ensemble Kaleidoskop, das aus dem Berliner Radialsystem gestreamt wird, erkläre ich zum Date. Ich mache vorher einen Soundcheck und ziehe mich schön an.
Ich bin pünktlich und versetze das Smartphone in den Flugmodus. Diesmal kein Second Screen. Das Konzert hat seine Längen, aber bei Neuer Musik muss man da nun mal durch. In «Abschied» geht es um den Übergang in eine neue Epoche und diese scheint auch abseits des Konzertsaals angebrochen zu sein.
Neue Rituale für neue Zeiten
Ich möchte die Epoche des Streamings mit neuen Ritualen begrüssen. Ich nehme mir vor, am Schluss zu applaudieren. Es fühlt sich komisch an. Wohl eher applaudiere ich mir selbst, weil ich ohne Pause im Hier und Jetzt geblieben bin.
Danach treffe ich zwei Freunde auf Zoom. Ich habe sie eingeladen den Stream mit mir anzusehen. Wir kommen in Fahrt, nehmen das Gehörte auseinander und trinken ein Glas Weisswein. Spätestens jetzt habe ich das Gefühl, heute Abend tatsächlich echte Musik mit echten Menschen genossen zu haben.