Da stehe ich also mit Wollmütze und Badeanzug. Vor mir: Das Geländer der Metalltreppe, an der ich mich gleich festkrallen werde. Hinter mir: Der Holzsteg, auf dem ich eben noch die letzten Überlebens-Tipps erhalten habe («Tief in den Bauch atmen», «Nicht mit dem Kopf untertauchen»). In mir: Eine Mischung aus Panik und Vorfreude.
Es ist 07.30 Uhr und ich werde jetzt baden gehen – in der 4 Grad kalten Limmat.
Ich hasse kaltes Wasser. Duschen kann ich nicht mal lauwarm. An manchen Hochsommertagen ist mir der Zürisee (Wassertemperatur Babybecken) sogar zu frisch. Warum ich jetzt trotzdem ins eisige Wasser steige? Der Hype ist schuld.
Die hartgesottenen Abenteurer unter sich
Seit Wochen wird mein Insta-Feed nämlich von strahlenden Gesichtern geflutet, die mich auf Bildern neben hochmotivierten Captions wie «Earlybird Dip» und «Start your Day right» begrüssen – noch bevor ich den ersten Kaffee getrunken habe.
In kleinen Adventure-Gruppen treffen sie sich im Morgengrauen, um zusammen in Limmat, Zürichsee und Aare einzutauchen und das im Anschluss den Daheimgebliebenen unter die Nase zu reiben.
«Auch dieser Lockdown hat schon seinen Hype», schreibt der «Tagesanzeiger». «Warum Eisbaden gerade so ein Trend ist» fragt sich das SZ Magazin in seiner aktuellen Ausgabe. Auch ich will wissen, warum.
Zwischen Endorphinrausch und Herzstillstand
«Du fühlst dich extrem gesund danach», erklärt Freundin Nr. 1. «Zuerst kommt der Schmerz, dann wohlige Wärme», ergänzt Freundin Nr. 2. Vom «Endorphinrausch» und «Abwehrkick» sprechen auch zwei Eisbade-Anhänger, die ich auf Instagram kontaktiere.
Sogar die Wissenschaft scheint von einigen positiven Effekten des Eisbadens überzeugt zu sein: Menschen, die häufig in kaltem Wasser schwimmen, sollen besser auf oxidativen Stress reagieren. Mehrere Studien weisen ausserdem darauf hin, dass Eisbaden einen positiven Effekt bei Depressionen haben könnte. Soll an den vielen Endorphinen und Dopaminen (unsere körpereigenen Schmerzmittel) liegen, die nach dem Kälteschock ausgeschüttet werden. Glücksrausch eben.
Ich finde allerdings auch weniger Berauschendes: Personen mit Herzproblemen können beim Eisbaden einen Herzstillstand erleiden. Während des Nach-Luft-Schnappens kann man sich ausserdem verschlucken und ertrinken. Das lässt meine Bedenken nicht gerade schrumpfen. Ohne kompetente Begleitung (Freundin Nr. 1) steige ich also nicht ins Nass.
Rasierklingen aussen, Alarmreaktion innen
Ob ich schliesslich berauscht von Endorphinen an der Leiter hänge? Naja.
Ich lache, ja. Tue das aber vor allem, um mich von den stechenden Rasierklingen an meinen Beinen abzulenken. Was ich sonst noch fühle? Mein Herz, das schneller schlägt und eine gewisse Fassungslosigkeit meinem Vorhaben gegenüber, mindestens 30 Sekunden im Wasser zu verharren. So lange soll es dauern bis die erste Alarmreaktion des Körpers ihren Peak erreicht. Ich zähle also runter.
Übung abbrechen!
Bei Sekunde 12 will ich abbrechen. Wo sind diese Glückshormone?! Kleiner Aufsteller von zwei Passanten, die mir strahlend ihre Daumen entgegenstrecken.
Ja, ein bisschen stolz bin ich auch.
Dann ist der Spass endlich vorbei. Ich hieve mich aus dem Wasser, trockne mich ab und warte. Kein Rausch, sondern ein kleiner Schwipps stellt sich ein: Ich habs überlebt. Das macht mich happy. Die angepriesene wohlige Wärme stellt sich allerdings erst ein, als ich Zuhause die dritte Tasse Tee intus habe. Sorry Leute, aber euren Eisbaden-Hype check ich nicht.